Westdeutsche Prosa (die 50-er Jahre, Heinrich Böll) NJ

Heinrich Böll
(1917 – 1985)
Mitglied der Gruppe 47. Er bekannte sich zur Trümmerliteratur, schrieb aus moralischen Gründen, realistisch
über die Kriegs- und Nachkriegszeit, obwohl mit einer großen hintergründigen Bedeutung.
Er war ein Meister der Kurzgeschichte - er begann nach dem Weltkrieg. Vorbild: amerikan. Short Storrys -
Hemingway + andere. In einer Kurzgeschichte muss die Handlung kurz sein, im Mittelpunkt kann eine Episode,
ein Mensch oder eine Atmosphäre stehen. Kurzgeschichten: „Der Zug war pünktlich“ (1949), „Wanderer,
kommst du nach Spa...“ (1950) - die Hauptperson ist ein schwer verwundeter Junge. Er fährt ins Lazarett, welcher
sich in seiner ehemaligen Schule befindet und wird zur Operation gebracht. Er hat die Schule nur für 3
Monate verlassen und jetzt ist er da zurückgekehrt. An der Tafel steht: Wanderer, kommst du nach Spa... Diesen
Satz musste er, der Wanderer in der Schönschrift einschreiben. Es ist ihm in leicht verstümmelter
(zmrzačený) Form gelungen. Auf diesem Opertisch erkennt er, dass er selbst verstümmelt ist - es fehlt ihm das
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Bein und beide Arme. Die Spritze des Arztes raubt ihm das Bewusstsein. (So endet es.)
Andere Werke: „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953), „Haus ohne Hüter“
(1954), „Billiard um halb zehn“ (1959), „Ansichten eines Clowns“ (1963), „Ende einer Dienstfahrt“ (1966),
„Gruppenbild mit Dame“ (1971), „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), „Frauen vor Flusslandschaft“
(1958)
Er erhielt sein Nobelpreis nach dem Erschienen des umfangreichen Romans „Gruppenbild mit der Dame“.
Die Handlung geht in die Zeitgeschichte zurück. Diese Ereignisse werden aus der Alltagsperspektive der Protagonistin
geschildert und aus der Sicht zahlreicher Nebenfiguren. Es ist ein Kriegs- und Nachkriegsroman, kann
aber auch als radikale Kritik deutscher Wirklichkeit verstanden werden.
Protagonistin Leni ist etwa 48 Jahre alt in der Erzählgegenwart. Sie ist eine vollkommene Außenseiterin,
sie weigert sich konsequent den Anpassungszwängen der Gesellschaft. Der Roman ist eigentlich Lenis Lebensweg.
Dieser fast lückenloser Lebenslauf wird auf pseudodokumentarische (es macht Eindruck, als ob es
wirklich wäre) Weise erzählt: hat Berichte, Protokolle, Bespräche, Eindrücke und Gespräche der Personen, die
mit Leni in Beziehung stehen. Leni selbst lässt sich nicht befragen (antwortet nicht). Die Geschichte erzählt der
Autor (wieder etwas Pseudodokumentarisches) und er mischt sich nur ausnahmsweise in Geschehen ein (ein
objektiver Verfasser). Leni ist eine stolze und ehrliche Dame und man kann ihr nicht nahe kommen. Sie kalkuliert
niemals taktisch, ist unbequem und für ihre Umgebung oft unheimlich, merkwürdig. Sie ist sinnlich erotisch
und religiös, aber nicht im kirchlichen Sinne. Sie lebt anders, als von ihr die Gesellschaft erwartet (sogar
verlangt). Sie heiratet, die Ehe dauert 3 Tage. Dann hat sie eine Beziehung mit einem russischen Kriegsgefangenen
Boris. Er stirbt kurz nach dem Kriegsende. Sie hat mit ihm einen Sohn, er will Müllkutscher werden und
will Zustimmung von Leni. In der Erzählgegenwart (1970) erwartet Leni ein Kind von einem türkischen Arbeiter
und wird vielleicht Mohammedanerin.
Der Roman ist episodenhaft und fragmentarisch erzählt. Es ist die Kritik der gesellschaftlichen Zustände,
aber zugleich die Geschichte einer großen Liebe. Leni ist intuitiv, gefühlssicher, moralisch (moralische Gestalten
spielen bei H. B. große Rolle), ausdrücklich mit der Mutter Jesu verglichen, sogar mit märchenhaften Zügen
dargestellt und steht im Gegensatz zu der Gesellschaft, die durch Streben nach Profit und Egoismus bestimmt
wird.
„Frauen vor Flusslandschaft. Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ (1985) - nur kurz vor Autors Tode
veröffentlicht. 12 Kapitel, ein pessimistisch-resignatives Porträt der damaligen BRD und ihren Hauptstadt.
Geschildert werden 2 Tage im Leben der Stadt Bonn, unterbrochen durch Erinnerungen v. a. an die Kriegsund
Nachkriegszeit. In diesen Tagen und Nächten wird ein Minister gestürzt und ein neuer gemacht und dabei
finden die Dialoge und Selbstgespräche statt. Vor allem aus der Perspektive der Lebensgefährtinnen, Freundinnen,
der Männer, wird ein Bild vom Leben der politischen Prominenz der Hauptstadt entworfen. Dieses Bild ist
voll von Verachtung, Skepsis, Melancholie, und ist sehr satirisch (die Rede ist nicht von Politiker dieser Zeit, es
geht um Typen). Die Frauen, die hier vorkommen, konnten noch den Sinn für Humanität bewahren, im Unterschied
zu den Männern und zu der Kirche, und wollten die Intrigenspiele der Männer nicht unkritisch mitspielen.
Die Politik wird als schmutziges Geschäft dargestellt, christlich marktwirtschaftlich und seelenlos.