Wendeliteratur in der DDR: Thomas Brussig: Roman „Helden wie wir“ (1995) NJ

Wendeliteratur in der DDR
Thomas Brussig: Roman „Helden wie wir“ (1995)
Mr. Oscar Kitzelstein von der New York Times bekommt eine tolle Story aufs Band: Ein Zeitzeuge europäischen
Formats, Klaus Uhltscht, erzählt seine Geschichte: Ehemals Flachschwimmer, Toilettenverstopfer
und Sachenverlierer aus dem Osten Berlins, Erfinder der Perversionenkartei, Klappkartenträger, selbstgekürter
Nobelpreisanwärter, schließlich derjenige, der die Berliner Mauer öffnete.
Er beginnt mit einer unerhörten Behauptung: Der Ich-Erzähler mit dem unaussprechlich-sprechenden
Namen Klaus Uhltzscht nimmt für sich in Anspruch, er ganz allein sei es gewesen, der am 9. November 1989
die Berliner Mauer zu Fall gebracht habe, und zwar mit seinem „Schwanz“. Wie genau er das bewerkstelligt
hat, erfährt sein Auftraggeber, ein Journalist der „New York Times“, als fiktiver Zuhörer allerdings erst im letzten
der insgesamt 7 besprochenen „Bänder“ (resp. Kapitel). Bis dahin werden die ersten 21 Lebensjahre des
Protagonisten in der DDR erzählt, die symbolhaft mit den 21 Sterbejahren des Sozialismus exakt ineinanderfallen,
denn seine Geburt in „eine politische Welt“ erfolgt am 20. August 1968, dem Tag des Einmarsches der
Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei.
Der Held wächst auf als Einzelkind zweier Eltern, die gegensätzlicher kaum sein können: die Mutter
stets achtsam, fürsorglich, alles erklärend, auf Ausgleich bedacht – der Vater ewig finster, mürrisch, schweigsam,
konfrontativ. In ihrer Erziehung allerdings ergänzen sie sich auf fatale Weise: Ihr Sohn wird immer
„klein“ gehalten, bleibt Außenseiter, fühlt sich als Versager. Empfindlichster Punkt seines Minderwertigkeitskomplexes
ist das, was Heranwachsende in der Regel auch am meisten beschäftigt – die Sexualität. In dieser
Hinsicht erlebt sich der intellektuell überlegene Protagonist gegenüber Gleichaltrigen als hoffnungslos unwissend
und zurückgeblieben; am meisten leidet er unter der Zwangsvorstellung, ein zu kleines Glied zu haben.
Sein Minderwertigkeitskomplex hat eine logische Kehrseite – den Größenwahn. Schon der kleine Klaus träumt
davon, berühmt zu werden. Neben diesem egoistischen Motiv treibt ihn aber auch ein altruistisches an: Er will
außerdem gebraucht werden. Beides zusammen macht ihn anfällig für die sozialistische Propaganda und letztlich
zu einem Mitarbeiter der Stasi, wodurch er in die Fußstapfen des Vaters tritt, auch wenn das seinen Gefühlen
zutiefst widerspricht und seine Unmündigkeit verlängert. Die Banalität seiner neuen Tätigkeit hindert seine
leicht reizbare Phantasie nicht, ihm ungeahnte Möglichkeiten vorzugaukeln, verführt ihn zu noch extremeren
sexuellen Perversionen und erzeugt in ihm ein erhebliches Maß an krimineller Energie, die nur durch den Gang
der Geschichte glücklich gewendet wird. Im Schlusskapitel („Der geheilte Pimmel“) wird die sexuelle Metaphorik
des Romans konsequent fortgeführt. Der Außenseiter schwingt sich auf zum Anführer einer Menge, die
noch mit dem Makel geschlagen zu sein scheint, den er vor ihnen überwunden hat. Die quasi im Vorbeigehen
erledigte Aufhebung der deutschen Teilung wird dabei ironisch kontrastiert mit dem paradigmatischen Roman
über den Vollzug der Teilung (Der geteilte Himmel), dessen Autorin Christa Wolf der Ich-Erzähler als „Übermutter“
der DDR-Literatur und der Wendezeit karikiert.
Thomas Brussigs Satire kann als Entwicklungsroman gelesen werden – hier natürlich in parodistischer
Umkehrung –, steht aber auch in der Tradition des Schelmenromans. Helden wie wir wurde schnell ein Bestseller,
von der Kritik als „heiß ersehnter Wenderoman“ begrüßt, kam in einer vom Autor dramatisierten Fassung
1996 auf die Bühne und hatte als gleichnamiger Film am 9. November 1999, dem 10. Jahrestag des Mauerfalls,
Premiere.