Sebastian Brant – Das Narrenschiff
Alle Lande sind jetzt voll heiliger Schrift
Und was der Seelen Heil betrifft:
Voll Bibeln, heiliger Väter Lehr
Und andrer änhnlicher Bücher mehr,
So viel, daß es mich wundert schon,
Weil niemand bessert sich davon.
Ja, Schrift und Lehre sind veracht’t,
Es lebt die Welt in finstrer Nacht
Und tut in Sünden blind verharren;
Alle Gassen und Straßen sind voll Narren,
Die treiben Torheit an jedem Ort
Und wollen es doch nicht haben Wort.
Drum hab ich gedacht zu dieser Frist,
Wie ich der Narren Schiff’ ausrüst:
[...]
So groß ist jetzt der Narren Zahl;
Ein Teil sucht Fuhrwerk überall,
Der stiebt hierbei gleichwie die Immen1,
Versucht es, zu dem Schiff zu schwimmen:
Ein jeder will der erste sein;
Viel Narren und Toren kommen drein,
Deren Bildnis ich hier hab gemacht.
Wär jemand, der die Schrift veracht’t,
Oder einer, der sie nicht könnt lesen,
Der sieht im Bilde wohl sein Wesen
Und schaut in diesem, wer er ist,
Wem gleich er sei, was ihm gebrist2.
Den Narrenspiegel ich dies nenne,
In dem ein jeder Narr sich kenne;
Wer jeder sei, wird dem vertraut,
Der in den Narrenspiegel schaut.
1 Immen: Bienen
2 gebrist: fehlt
Erläutere anhand dieses Beispieles den Begriff „lehrhafte Dichtung“!
Am Anfang beschreibt der Autor mit einiger Übertreibung die Situation in der Welt was das Wissen angeht. Dabei verwendet er Spott und Ironie. Eine wichtige Rolle spielt das Wort „jetzt“ in der ersten Zeile. Wenn man weiterliest, stellt man fest, dass der Autor die sinnlosen Neuigkeiten kritisiert. Er wendet sich gegen das Fehlverhalten und die Schwächen der Menschen. Diese Kritik wird vor allem in der 9. – 10. Zeile des ersten Abschnitts sichtbar. Im zweiten Abschnitt beschreibt er die reale Situation in der Welt, d. h. dass viele Menschen der Blödheit zum Opfer gefallen sind.
Die lehrhafte Literatur war besonders im Humanismus und in der Reformation ausgeprägt. Ihre Hauptidee war, die moralischen Lehren nicht nur in Predigten und Traktaten zu vermitteln, sondern auch durch die Dichtung. Häufig wurden diese Lehren in Form von Satire und Ironie verarbeitet, man versuchte die Fehler und Sünden der Menschen durch bissigen Spott aufzudecken. Die, deren Verhalten sich nicht mit den Vorstellungen der Renaissance-Humanisten gedeckt hat, sind als Narren dargestellt worden und werden lächerlich gemacht. So ist die Narrenliteratur entstanden.
Nenne andere Beispiele von Werken der Literaturgeschichte, von denen der Leser etwas lernen könnte.
Renaissance und Humanismus: Sebastian Brant – Das Narrenschiff, Erasmus von Rotterdam – Das Lob der Torheit
Aufkärung: Immanuel Kant – Was ist Aufklärung, Gotthold Ephraim Lessing - Nathan der Weise (Ringparabel - Toleranzidee), Johann Christoph Gottsched – Zur Erziehung des weiblichen Geschlechts, Aphorismen – z. B.: Georg Christoph Lichtenberg
Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethe – Faust
Klassik: Friedrich Schiller – Das Lied von der Glocke, Johann Wolfgang Goethe – Iphigenie
Biedermeier: Georg Büchner – Hessischer Landbote
Was kann (soll) der Leser aus diesen Werken lernen?
Diese Werke wollen allgemein dem Leser die Augen öffnen. Man will die „verrückten“ Leute um sich herum sichtbar machen.
Renaissance, Humanismus: Man hat versucht, den Menschen die Fehler ihres Verhaltens zu zeigen. Man hat zeigen wollen, dass der Mensch, wenn er sich nicht wie üblicherweise verhällt, aussserhalb der Norm steht und deshalb ein Narr ist.
Aufklärung: Die Literatur dieser Zeit will den Leser aufklären – also „aufwecken“. Die Geschehnisse sollen besser sichtbar werden. Der Mensch soll nicht mehr hirnlos den alten Sitten und Konventionen folgen, er soll über bestimmte Dinge nachdenken, diese analysieren und erst dann handeln. Die Vernunft soll den Aberglauben, die Faulheit, Trägheit und die Intoleranz besiegen. Der Mensch wird aufgefordert, von seiner Vernunft in allen Stückchen öffentlichen Gebrauch zu machen. Gefühle und subjektive Einstellungen sind hier fehl am Platz.
Klassik: Die deutschen Klassiker haben sich in ihren Werken, aber auch in dem Verständniss, wie ein guter Mensch zu sein hat, auf die Ideale der römischen und griechischen Antike orientiert. Nach ihren Vorstellungen hat ein guter Mensch ein Humanitätsideal zu verfolgen. Die Kraft der Genialität, der Triebe, der Leidenschaft soll zurücktreten, denn nur der massvolle Mensch, der sich selbst beherrschende, hat die Harmonie in sich und verkörpert die Idee des Humanen. Die Schriftsteller der Klassik versuchen durch ihre Werke die Menschen zu Humanität zu führen. Man versucht dies durch die Beschäftigung mit schönen Künsten, durch Bildung und Erziehung soll der Mensch eine höhere Stufe der Sittlichkeit errreichen.