Romeo und Julia auf dem Dorfe -Interpretation
Interpretation
4.1 Entstehung der Geschichte
Die Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe entstand im Jahre 1856 im Berlin, nachdem der Autor einen Tatsachenbericht in der „Züricher Freitagszeitung“ vom 3. 9. 1847 gelesen hatte, der von der Geschichte eines Liebespaares berichtete, das tot aufgefunden wurde.
"Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in tödlicher Feindschaft lebten und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügen, tanzten daselbst bis nachts 1 Uhr und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen."
In seinem Vorwort schreibt Keller: „Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.“
4.2 Symbole
Die Steine
Die Steine sind lästige Gegenstände in den Furchen der Bauern, die man in die Mitte auf den wilden Acker, wie zu Beginn beschrieben wird, wirft.
Als Manz den mittleren Acker erwirbt und ihn von all den Steinen "befreit", die auf ihm liegen, schüttet er sie auf das "streitige Dreieck", um es Marti heimzuzahlen.
Das Motiv der Steine steht für Unfruchtbarkeit, Wildnis, Tod und die Zerstörung der Harmonie zwischen den beiden Familien.
Die Steine sind ein Symbol, das im ersten Teil, also bis zum Wendepunkt der Erzählung, als Sali aus Wut einen Stein an den Kopf von Marti wirft, sehr oft vorkommt. Diese Tat ist ein Wendepunkt, da für alle Personen eine Art "neues Leben" beginnt. Marti wird verrückt und landet in der Irrenanstalt. Manz und seine Frau haben jetzt Ruhe vor ihm und führen ein etwas besseres Leben als zuvor, doch nur deshalb, weil Manz sich den Dieben anschließt. Für Sali und Vrenchen beginnt etwas Neues, jedoch nicht auf der Erde, da sie keinen anderen Ausweg mehr finden und sich nach ihrem gemeinsamen Tag umbringen.
Die Puppe
Die Puppe von Vrenchen, die sie zu Beginn der Erzählung dabei hat, als Sali und sie ihren Vätern das Mittagsvesper bringen, tritt im Gegensatz zu den anderen Symbolen nur einmal auf. Sie spielt aber trotzdem eine wichtige Rolle, da sie mehrere Symbolfunktionen hat. Eine wichtige Funktion ist diese, als Sali das Püppchen mit einem Stein von der Distelstaude herunterwirft. Das weist auf die Stelle hin, als Sali Marti mit einem Stein an den Kopf wirft.
Eine andere bedeutsame Symbolfunktion ist, dass anschließend die Puppe von den beiden Kindern nach und nach zerstückelt wird. Hier wird auf den allmählichen Auseinandergang der Familien hingewiesen.
Ein dritter Hinweis auf das, was noch geschehen wird, ist die lebendig begrabene Fliege in dem Puppenkopf, die die Kinder dort einschließen. Als Vrenchen ihren Vater ins Irrenhaus bringt, ist in der Novelle von einem "lebendigem Begräbnis“ (S.4-5) die Rede.
Der brachliegende Acker
Der brachliegende Acker, der eigentlich dem Geiger gehört und zwischen den Äckern von Manz und Marti liegt, ist eng mit dem Bild der Steine verknüpft, denn auf ihn werden die Steine, die die Furchen der Bauern behindern, geworfen. Dies geschieht ohne groß nachzudenken und schon ganz automatisch. Marti und Manz sehen ihn als etwas Störendes an.
Der "wilde" Acker, wie er auch genannt wird, ist ein Ort der Wildnis und der Grausamkeit, wie die grausamen Spiele der Kinder zeigen. Aber auch weil Marti durch den Steinschlag zuerst bewußtlos, dann verrückt wird. Er ist zugleich wilder Brachacker und Kindheitsparadies und zugleich Treffpunkt der Verliebten und Ort des Unheils.
Der eigentlich Grund des Beginns des Konfliktes der Bauern, ist der, daß es Manz stört, daß Marti eine Ecke seines jetzt ihm gehörenden Ackers weggepflügt hat.
Der schwarze Geiger
Der schwarze Geiger kommt das erste Mal ins Spiel, als Manz und Marti bei ihrer Mittagspause über ihn herziehen. Er ist der eigentliche Besitzer des wilden Ackers und eine Person der gesellschaftlichen Randgruppe, ein Außenseiter. Er steht in enger Verbindung mit den Symbolen des Steins und des Ackers.
Er ist das das Sinnbild für die Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit von den Bauern Marti und Manz, denn er ist derjenige, dem die beiden das Unrecht zufügen. Außerdem ist er ein Symbol des Todes, der Sali und Vrenchen ihr tragisches Ende voraussagt.
Als er das erste Mal auf Sali und Vrenchen trifft, werden sie "in einem seltsamen Bann" gezogen. Er wird als ein "dunkler Stern" beschrieben. Als er mit den beiden redet, springt er auf die "feuerrote Steinmasse". Man erkennt sehr deutlich, daß er die Züge einer Teufelsfigur hat.
Zum Schluß will er ihnen einen Ausweg anbieten, doch sie lehnen ab, weil die Bürgerlichkeit Teil von ihnen geworden ist.
Der Fluß
Der Fluß, der durch das Dorf Selwyl fließt, ist das erste Symbol, mit dem die Novelle beginnt. Er ist das Symbol des Todes, da die beiden Verliebten ihren Tod in seinen Fluten finden.
Er ist eine Art von "Spiegelbild", das die augenblickliche Stimmungen der Hauptpersonen zurückspiegelt. Zu Beginn, als die Familien noch nicht im Streit leben, ist er der schöne, ruhig fließende Fluß, der durch das Dörfchen fließt. Doch schon bald wird er zum tosend reißenden Fluß, als der Streit zwischen den Bauern auf der Brücke stattfindet. Die beiden müssen gegen ihn anschreien. Dort erreicht ihre Verfeindung ihren Höhepunkt. Und schon am nächsten Tag, als Sali auf dem Acker auf Vrenchen wartet und er voller Glücksgefühle ist, glänzt er wieder in der Mittagssonne und fließt ruhig vor sich hin.
Er ist außerdem ein Symbol des Elends, da sich dort die verarmende Schicht versammelt, um zu fischen, eine Tätigkeit, die darauf hindeutet, daß diese Menschen an ihrem absoluten Tiefpunkt angekommen sind. Er wird hier als eine "Heiligengalerie" beschrieben.
Der Fluß ist das letzte Symbol mit dem die Erzählung schließt und hat somit das letzte Wort.
„Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten, bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome.“ (S. 34)
Das mehrfach vorkommende "bald" und was dem Fluß alles begegnet, weisen ein langsames "Ausschleichen" der Geschehnisse und des Lebens der Verliebten auf.
Farbsymbolik der Natur
Die Natur ist, ähnlich wie der Fluß, ein "Spiegel" der Stimmung der Charaktere. Zu Beginn, als alles noch "in Ordnung" war, wird die Natur folgendermaßen beschrieben, wie in einem Bilderbuch:
"eine fruchtbare, wohl bebaute Ebene"
"ein schöner Fluß"
"ein sonniger Septembermorgen"
"ein Städtchen, das räucherig glänzend in seinem Bergen liegt."
Als Manz und Marti dann in Feindschaft leben bekommt die Natur eine ganz andere Beschreibung. Bevor es zu der Begegnung am Fluß kommt, wrden durch Naturerscheinungen schon "vorausgesagt", daß es gleich zu einer Streiterei kommen wird:
"ein ziemlich tiefer und reißender Bach"
"da der Himmel voll Gewitterwolken hing"
Beim Zusammentreffen, als sie sich anschreien und wütend auf sich losgehen:
"rauschen die Wellen des Baches stärker"
"fangen jetzt auch die Weiden am Bache gewaltig an zu rauschen im aufgehenden Wetterwind"
Doch als Sali mit Vrenchen in Berührung kommt, während sie versuchen ihre Väter auseinander zu bringen, erhellt plötzlich ein Wolkenriß das Gesicht des Mädchens. Hier und noch an denjenigen Stellen, wo Sali und Vrenchen sich treffen, wird in der Landschaft die glückliche Stimmung der beiden wiedergespiegelt:
"tiefblauer Himmel"
"keine Wolke am reinen Himmel"
"der Wald war grün, der Himmel blau"
"die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe bekleidet" (dies symbolisiert die saubere Kleidung der beiden an ihrem letzten Tag.)
Allein der Dorfname "Seldwyl ist ein von Keller erdachter Name, der übersetzt "Glücksdörfchen" bedeutet.
saelde = Glück, Wonne wyl = Weiler (kl. Dorf)
4.3 Gründe für den Selbstmord
Schon seit frühester Kindheit besteht eine tiefe Zuneigung zwischen Vrenchen und Sali. Doch durch den Streit der Familien und durch den Umzug von Salis Familie, sahen die beiden sich nicht oft. Erst bei den Treffen auf der Brücke, als die beiden Väter sich stritten und sich zufällig ihre Hände berührten, spürten die beiden, daß die Zuneigung zueinander in den Jahren der Trennung nicht verloren gegangen ist. Sie spürten die Liebe zueinander.
Vrenchen und Sali konnten jedoch nicht offen zu ihrer Liebe stehen, da es keine Aussicht gab, daß sich der Streit der beiden Familien, der sich ja schon über Jahre hinweg zog, sich jemals legen würde.
Vrenchen und Sali sahen keinen Ausweg mehr für ein glückliches Zusammenleben. Obwohl sie die Möglichkeit hatten, mit dem schwarzen Geiger in die Berge zu ziehen. Vrenchen aber wollte nicht in die Berge ziehen, weil sie Angst hatte, Sali zu verlieren. Außerdem wollte sie nicht, daß sie beide einen noch schlechteren Ruf erlangen, als sie sowieso schon hatten.
Ein weiterer Grund für den Suizid des Liebespaares war, daß sie beide kein Geld hatten um sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen und somit nicht die Möglichkeit sich ihre Zukunft so zu gestalten, wie sie es sich beide vorstellten.
Es kam bei vielen Situationen der Gedanke des Selbstmords auf. Einmal von Sali ausgesprochen, setzte sich der Selbstmordgedanke immer mehr in ihren Köpfen fest und wurde immer realistischer.
4.4 Vergleich mit Shakespeare’s "Romeo und Julia"
Im Gegensatz zu Keller’s "Romeo und Julia auf dem Dorfe" bringen sich Romeo und Julia von Shakespeare nicht gemeinsam, sondern nacheinander um, nachdem Julia aufwachte und entdeckte, dass Romeo tot neben ihr lag. Der Selbstmord von beiden beruhte auf einem Mißverständnis. Shakespeare beschreibt ganz ausführlich, wie die beiden ums Leben kamen. Er beschreibt den Gifttod und das Leiden Julias ganz ausführlich (wie sie versucht von Romeos Lippen noch ein bißchen Gift zu bekommen) und wie sie sich dann den Dolch in den Körper stiess.
Bei Keller begehen Vrenchen und Sali gemeinsam, ganz bewusst und eng umschlungen den Selbstmord. Über den eigentlichen Ablauf des Todes der beiden, wird nicht berichtet. Man erfährt nur, daß zwei Tode Körper im Fluß gefunden wurden. Ob sie zum Beispiel gleichzeitig ins Wasser gesprungen sind oder nacheinander, der genauere Ablauf bleibt der Phantasie des Leser überlassen.
Keller’s Version spielt in einem einfachen, armen Bauernmilieu. Es sind einfache Leute. Shakespeare’s "Romeo und Julia" in einem gehobenen Milieu, die Familien sind wohlhabend.
Der verschiedene gesellschaftliche Stand der Familien beweist und soll vielleicht auch signalisieren, dass Probleme zwischen Liebenden in jeder gesellschaftlichen Schicht auftreten können. Der Grund und der Auslöser der Probleme mag durch den unterschiedlichen Stand in der Gesellschaft vielleicht unterschiedlich sein, doch ist es gleichgültig, ob man arm oder reich ist. Probleme gibt es in jeder sozialen Schicht.