Jurek Becker (Kindheit und Jugend) NJ
Jurek Becker
(1937 in Łódź, Polen - 1997 in Sieseby)
Kindheit und Jugend: Jurek Becker wurde in Łódź in Polen geboren. Sein Geburtsdatum wurde willkürlich
gewählt, da ihn sein Vater im Ghetto älter gemacht hatte, um ihn vor der Deportation zu bewahren. Später
erinnerte er sich nicht mehr an das richtige Geburtsdatum. Wahrscheinlich war Jurek Becker einige Jahre
jünger als überall verzeichnet ist.
Seine Eltern waren Juden und sein Vater Max Becker (1900-1972), der ursprünglich aus Bayern stammte,
arbeitete als Angestellter und später als Prokurist in einer Textilfabrik. 1939 wurde Jurek Becker zusammen
mit seinen Eltern Insasse des Ghettos von Łódź. Im Alter von fünf Jahren kam er, getrennt von seinen Eltern,
zunächst in das KZ Ravensbrück und später nach Sachsenhausen. Als der Krieg zu Ende war, fand ihn sein Vater,
der in Auschwitz überlebt hatte, mit Hilfe einer amerikanischen Suchorganisation wieder. Seine Mutter
sowie ungefähr 20 weitere Familienmitglieder waren umgebracht worden. Er hatte kaum Erinnerungen an sie.
Eine Tante, die vor dem Einmarsch der Deutschen in die USA geflüchtet war, Jurek und sein Vater waren die
einzigen Überlebenden der Familie.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jurek Becker kaum Erinnerungen. Er selbst erklärte sich dies dadurch,
dass er einen großen Teil verdrängt oder vergessen hatte, und dass die Tage im Lager so grau und ereignislos
waren, dass er nicht gelebt, sondern nur existiert hatte. Auch sein Vater half ihm nicht, die Erinnerungen wieder
zu finden:
„Mein Vater hat nach dem Krieg relativ wenig getan, Erinnerungen in mir wach zu halten, ich würde
sogar sagen, er hat viel getan, die Erinnerungen zu tilgen, zu löschen. Wenn ich mich recht erinnere, hat in unseren
Gesprächen die damals unmittelbare Vergangenheit nie eine Rolle gespielt, im Gegenteil, er hat meine
Fragen abgewimmelt - wahrscheinlich weil er betroffener davon war als ich.“
Aus diesem Grund versuchte Jurek Becker später mit Hilfe von Recherchen selbst etwas über die Vergangenheit
heraus zu finden und die Ergebnisse in Geschichten zu verarbeiten:
„Dennoch habe ich Geschichten über Gettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann. Vielleicht habe
ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen. Vielleicht habe ich
irgendwann auch angefangen, manche meiner Erfindungen für Erinnerungen zu halten. Ohne Erinnerungen an
die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt
du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, und um so ungeduldiger wirst du, das
Ding endlich zu öffnen.“
1945 zog Jurek Becker mit seinem Vater in die Lippehner Straße 5 nach Ost-Berlin. Diese Entscheidung
begründete der Vater damit, dass in der Sowjetischen Besatzungszone Antifaschisten an die Macht kamen und
nirgends so gründlich gegen den Antisemitismus vorgegangen wurde wie an der Stelle, an der er die größte
Ausprägung erfahren hatte. Max Becker unterschied auch später sehr stark zwischen sich und den Deutschen.
Das Verhältnis zwischen Jurek Becker und seinem Vater war nach Beckers eigener Aussage relativ gut, obwohl
er hinzufügt:
„Die Schwierigkeit eines Dialogs mit meinem Vater erwuchs auch daraus, dass ich ein Monstrum war.
Verstehen Sie es bitte nicht als Überheblichkeit, wenn ich sage, dass mein Vater, der ein einfacher Mann war,
Mühe hatte, mir gewachsen zu sein. In seinen Augen war ich ein Mittelding zwischen Intelligenzbestie und
Kindskopf.“
Über die Beziehung zu seiner Stiefmutter hat sich Jurek Becker hingegen nie geäußert. Das größte Problem
in Ost-Berlin erwuchs ihm aus der einfachen Tatsache, dass er die deutsche Sprache nicht beherrschte:
„Als ich acht Jahre alt war, hörte mein Vater, der letzte nach dem Krieg mir verbliebene Verwandte, von
einem Tag zum nächsten auf, mit mir Polnisch zu sprechen; seine Absicht war die beste, er vermutete, dass mir
gar nichts anderes übrig bleiben würde, als im Handumdrehen Deutsch zu lernen. Was er nicht bedacht hat,
war, dass ich das Polnische viel schneller vergaß, als ich die neue Sprache lernte. So musste ich einige Zeit
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buchstäblich sprachlos leben.“
Vor allem in der Schule war die Situation schwierig, da er überall als Fremder und früher Verfolgter erkannt
wurde und ihn die Mitschüler mit Verachtung straften. Es bedeutete für ihn das größte Glück, Fehler zu
vermeiden. Ansonsten war das Leben in Ost-Berlin akzeptabel, da sie als Juden einige Privilegien genossen und
zum Beispiel bessere Lebensmittelkarten bekamen.
Becker lebte nach 1945 in Ost-Berlin, u. a. in einer Wohngemeinschaft mit Manfred Krug. 1955 machte
Jurek Becker das Abitur und leistete anschließend zwei Jahre Militärdienst in der Nationalen Volksarmee. Außerdem
wurde er Mitglied der FDJ. Gegen den Willen seines Vaters, der wollte, dass er Arzt würde, entschied
er sich 1957 für das Studium der Philosophie und wurde Mitglied der SED. Nach sechs Semestern wurde er
1960 aus politischen Gründen von der Universität relegiert und wurde freier Schriftsteller.