Jugend nach der Wende
Jugend nach der Wende
Zehn Jahre nach der Wende leiden Ostdeutsche häufiger an Angstsyndromen als Westdeutsche. Betroffen sind vor allem junge Menschen. Psychologen vermuten, daß sie von den neuen gesellschaftlichen Regeln verunsichert werden. Aber auch Alkohol- und Tabakkonsum nehmen in den neuen Ländern zu.
Die junge Frau hat Angst. Vor überfüllten Straßenbahnen, vor Menschenmassen und vor peinlichen Situationen. Sie geht nicht auf Partys, weil sie nicht negativ auffallen will. "Wenn die anderen mich sehen, denken sie schlecht über mich", sagt sie. Solche Aussagen hört die Dresdner Diplom-Psychologin Ines von Witzleben gerade von jungen Frauen häufig. Soziale Phobie mit depressiven Episoden, lautet dann die Diagnose.
Angststörungen bei jungen Frauen im Osten häufen sich
Jede vierte ostdeutsche Frau im Alter zwischen 18 und 24 Jahren leidet unter einer Angststörung, jede zehnte fürchtet den Kontakt mit Menschen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie der Technischen Universität Dresden vom März 1998. Demnach sind Angststörungen unter jungen Frauen im Osten mehr als doppelt so häufig wie bei Frauen in Westdeutschland oder wie bei ostdeutschen Männern.
Warum aber fürchten sich gerade junge Frauen? "Jede große Veränderung der Gesellschaft führt auch zu einer Veränderung in der Psyche", sagt Ines von Witzleben, "Männer reagieren auf solche Veränderungen anders als Frauen. Männer machen eher Suchtkarrieren."
Psychische Störungen werden jetzt allmählich seltener
Besonders Jugendliche sind in Ostdeutschland offenbar von Ängsten betroffen. Jeder dritte Bewohner unter 20 Jahren hat dort ein Angstsyndrom, im Westen ist es nur jeder zehnte. Diese Zahlen nennt eine representative Bevölkerungserhebung von 1994, die die beiden klinischen Psychologen Jürgen Margraf und Andreas Poldrack in diesem Jahr veröffentlicht haben. Insgesamt sind Angstsyndrome nach der Studie im Osten doppelt so häufig wie im Westen.
Vor sechs Jahren war die Zahl psychische Störungen in Ostdeutschland dramatisch erhöht, jetzt merkt man aber, daß sich die Unterschiede zum Westen angleichen", betont Dr. Erni Becker von der Universität Dresden.
Inzwischen seien nur noch das generalisierte Angstsyndrom und die Sozialphobie bei Frauen häufiger als im Westen.
In der DDR, erläutert Becker, gab es feste Regeln, und die sind jetzt aufgeweicht. "Die befragten Frauen habe diese Regeln als Teenager noch mitbekommen." Suchtstörungen seien dagegen bei Ostfrauen seltener: "Harte Drogen sind weniger verbreitet und auch Alkohol scheint für Frauen hier kein reizvoller Ausweg aus Problemen zu sein."
Immer mehr Frauen im Osten fangen an zu rauchen
Allerdings der Osten auch beim Drogenkonsum schon kräftig aufgeholt. So wird in den Neuen Ländern häufiger zur Zigarette gegriffen als im Westen: Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts stieg der Anteil rauchender Frauen im Osten zwischen 1992 und 1999 von 21 auf 29 Prozent und liegt damit höher als im Westen. Bei den Ostmännern kletterte im selben Zeitraum der Raucheranteil 40 auf 41 Prozent, während er bei den Westmännern auf 36 Prozent leicht fiel.
Dramatisch nahm die Zahl der Raucher unter ostdeutschen Jugendlichen zu: Qualmten 1993 noch 19 Prozent der 12 bis 17jährigen, waren es 1997 bereits 34 Prozent, acht Prozent mehr als im Westen. In Sachsen-Anhalt rauchten 1997 gar drei von vier Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren.
Beim Alkoholkonsum ziehen die jungen Mädchen nach
Für Sachsen-Anhalt gilt auch nicht, daß Ostfrauen weniger Alkohol trinken als Westfrauen. Professor Wolfgang Heckmann vom Bereich Gesundheitswesen der Magdeburger Fachhochschule verweist darauf, daß es in dem Bundesland mehr alkoholkranke Frauen gibt als im Bundesdurchschnitt. Vor allem die Mädchen ziehen beim Alkoholkonsum nach: "Da gibt es kaum noch Unterschiede zu den Jungs", berichtet Heckmann. Er sieht in den Eltern ein schlechtes Vorbild: "Die Erwachsenen haben erst einmal alles durchprobiert. Aber zehn Jahre nach der Wende ist der Hunger, etwas nachholen zu müssen, noch nicht gestillt." Den 12 bis 14jährigen, vermutet Heckmann, wird ein Nachholekult vorgelebt. "Ich kenne Jugendliche, die sind stolz darauf, 80 Whisky-Marken zu kennen."
Solche Leute kennt auch Dr. Ilse Schneider vom Sozialpsychiatrischen Dienst in Magdeburg. Und sie kennt die Zahl der Zwangseinweisungen. Die stieg in der Landeshauptstadt zwischen 1995 und 1997 plötzlich um 43 Prozent und stagnieren seither. Zweithäufigster Grund für die Einweisung in eine psychiatrischen Klink: Probleme durch übermäßigem Alkoholkonsum.
Hauptgrund für Zwangseinweisungen sind aber noch immer Psychosen, betont die Psychiaterin, und erklärt damit den starken Anstieg der Einweisungszahl Mitte der 90er Jahre: "Gleich nach der Wende waren psychisch Kranke noch einsichtig und haben ihre Compliance eingehalten, dann haben viele allerdings gedacht, daß jetzt jeder machen kann, was man will." Darauf hätten diese Patienten ihre Medikamente abgesetzt, seien allmählich dekompensiert und per Zwangseinweisung in eine Klinik gekommen.