Irena Brežná: Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa
Irena Brežná: Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa
(Reportagen, 2004)
In ihrem neuen Reportageband beschreibt Irena Brezna die Zustände in Mittel- und Osteuropa sowie ihre
eigene Befindlichkeit als Migrantin in der Schweiz.
Bereits 1987 schrieb Irena Brezna über ihre Ankunft in der Schweiz und ihr Zwischen-den-Kulturen-
Stehen, 1996 erschien - nach anderen Publikationen - ein Band mit literarischen Reportagen aus Mittel- und
Osteuropa nach der Wende von 1989, und ein Jahr später war Tschetschenien Gegenstand einer Reportagensammlung.
Als vielsprachige Reisende ist die gebürtige Slowakin auch in den letzten acht Jahren wieder unermüdlich
in diesen geografischen Zonen unterwegs gewesen und hat für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften
in Deutschland und in der Schweiz geschrieben; die Bandbreite der von ihr bedienten Printmedien reicht dabei
von dem in mehreren Sprachen verlegten Magazin des deutschen Goethe-Instituts «Kafka» über die «Neue
Zürcher Zeitung», die «Frankfurter Rundschau» oder die «Weltwoche» (das war allerdings noch 1997) bis zu
einem Beitrag für ein Merian-Heft.
«Die Sammlerin der Seelen» ist ein handlicher Band: Der Aufbau-Verlag hat ihn in der Erstausgabe
sogleich als Paperback herausgegeben. Zusammen mit den früheren Reportagesammlungen bildet er eine langfristige,
kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Veränderungen im Osten Europas von den achtziger Jahren
bis in die Gegenwart.
Irena Brezna fokussiert auch in ihren neuesten Texten auf kleine, nur scheinbar banale Szenen und Skizzen
von menschlichen Schicksalen, die aber oft mehr aussagen als wortreiche Analysen: Die tschetschenische
Friedensaktivistin Sainab Gaschajewa, der in dem Band viel Platz eingeräumt wird (und der Irena Brezna das
neue Buch auch gewidmet hat), sieht auf ihrer Westeuropareise in ihrem Hotelzimmer eine aufgestellte Plastikschmuckablage
in Form einer Hand stehen, und sogleich rasen der traumatisierten Frau die Bilder vom Raketenangriff
auf den Markt von Grosny durch den Kopf; ein Lastwagenfahrer erzählt bei einem Bier in einer Autobahnraststätte
von Foltermethoden; eine Albanerin wird vom Schweizer Staat an der Ausreise gehindert, und
ihre Mutter stirbt allein in einem Heim in Albanien. Diese und viele andere Szenen schildert die Autorin in einem
manchmal lakonischen, manchmal wütenden Ton. Das Besondere dabei ist, dass die seit 35 Jahren in der
Schweiz lebende Slowakin alle die von ihr entworfenen Bilder mit einem doppelt gebrochenen, doppelt fremden
Blick betrachtet und wiedergibt.
Irena Brezna steuert in ihren Texten meist sehr direkt auf das Unangenehme zu, das gerne beiseite geschoben
und verdrängt wird: Prostitution und Menschenhandel, die Folgen von Grenzen und Asylgesetzen,
Krieg, Folter und Vergewaltigung. Die Schauplätze der Texte in ihren neuesten Reportagen sind unter anderem
die rumänischen Südostkarpaten, das Tatragebirge, Moldawien, Transnistrien, Tschetschenien und slowakische
Dörfer im rumänischen Bihor. Zum Geschichtenpersonal gehören Nonnen in Siebenbürgen, eine Gesellschaft
an einer Hochzeit von Goralen im polnischen Bergland, Bauern in der Ostslowakei oder eine Gefangene in einem
Frauenlager im Ural. In den Text eingestreute Dokumente erinnern daran, dass Irena Brezna von 1975 bis
1987 Koordinatorin für sowjetische Gefangene bei Amnesty International war. So sehr die Reportagen aus Mittel-
und Osteuropa aber auch Breznas seismografischen Sinn für Veränderungen aufzeigen - die stärksten Passagen
und eindringlichsten Formulierungen gelingen der heute in Basel lebenden Schriftstellerin und Reporterin
in den Texten, in denen sie am nächsten bei sich selbst ist: Wenn sie über ihr Verhältnis zum Begriff «Heimat»
reflektiert oder über die Wandlungen, die sie in über dreissig Jahren in der Schweiz durchlaufen hat, überzeugen
ihre Texte psychologisch und literarisch am meisten.