Interpretation – „Die Tote im Wasser“
Interpretation – „Die Tote im Wasser“
1. Strophe: Zu Beginn werden schon die Masten der Schiffe am Kai, passend zu der verschwommenen Sicht durch den herrschenden Nebel, zu dem recht morbiden Bild, „verbrannter Wald“ (Z. 2), gemacht.
2. Strophe: Es wird der Unrat im Wasser mit einer „weiße[n] Haut“ (Z. 7) verglichen, was sein tatsächliches Aussehen darstellen soll.
3. Strophe: Abfall der Stadt steht hier im Vordergrung.
4. Strophe: Das Kleid der Frau wird mit dem weißen Schiff verglichen, das an der Leiche dominiert.
5. Strophe: Das Bild des weißen Schiffes als auch die Leiche selbst werden personifiziert. Ab dieser Strophe benutzt der Autor komischen Ton, in welchem sich der Autor über die eigentlich schrecklichen Tatsachen lustig macht.
6. Strophe: Hohler Bauch der Leiche wird hier als „Grotte“ bezeichnet. Die Leiche wurde langsam von den Ratten gefressen.
7. Strophe: Letzte „Ruhe“ finden sie im Arm feister Kraken; man könnte sich andere Ruheplätze für junge Frauen denken.
Die Entstehung
Das Gedicht „Die Tote im Wasser“ von Georg Heym fällt mit dem Entstehungsdatum 1910 zeitlich in die Epoche des Expressionismus. In dieser Zeit versuchte man sowohl in der Kunst als auch in der Lyrik einzelne Gefühlsregungen als wesentlich hervorzuheben. Eine große Rolle spielte die sogenannte Wasserleichenpoesie, die sich immer wieder auf die wahnsinnige, ertrunkene Ophelia aus Shakespeares „Hamlet“ als Hauptthema bezieht. Heym kam mit diesem Gedicht erstmals in seiner Laufbahn auf dieses Thema und wurde dabei, offenbar von Gedichten Rimbauds inspiriert.
Der formale Aufbau
Das siebenstrophige Gedicht weist wie die meisten Gedichte Heyms eine strenge formale Gliederung auf: vier Verse aus fünfhebigen Jamben sind gemäß dem umarmenden Reimschema angeordnet. In der ersten Strophe gibt es, durch die Verlagerung auf Worte wie „Wall“ (Z.1), „Rot“ (Z. 2) und „tot“ (Z. 3), ein hohler, tragender Klang, der die beschriebene Atmosphäre hervorhebt. Ab der fünften Strophe löst sich Heym von der strengen männlichen Kadenz und wechselt teilweise zu einer Weiblichen. Er beendet das Gedicht jedoch in den letzen beiden Versen, als eine Art Schlusspunkt, aber mit männlichen Kadenzen.¹
Der Titel
Schon der Titel "Die Tote im Wasser" gibt einen Hinweis. Bei Heym fällt ihr Name nicht, die Tote bleibt auch im weiteren Verlauf des Gedichts anonym. Über ihr Schicksal, ihre Todesursache erfährt der Leser nichts genaues..
Verbindung der Motive
Oft steht die anonyme Wasserleiche in den Werken der Expressionisten in enger Verbindung mit dem Motiv vom "gefallenen Mädchen", der Jungfrau, die sich ihrem Geliebten oder Bräutigam hingibt, aber wird von ihm verlassen, obwohl sie ein Kind von ihm erwartet.
In vielen "Wasserleichen"- Gedichten kommt es zu einer paradoxen Verbindung beider Vorlagen: Die Leiche, die im Wasser liegt, erlebt eine zweite, symbolische "Lebensreise", ihre "Erlebnisse" auf dieser Fahrt werden wiedergegeben. Diese fließenden Gewässer wecken zwiespältige Assoziationen: In der antiken Mythologie steht der Fluß bzw. das Meer für das Reich der Toten oder für den Tod selbst. Gleichzeitig wird der Fluß, und mit ihm die ganze umgebende Natur belebt: zum Teil auch die Tiere stellen aktive handelnden Personen im Gedicht, während die Leiche passiv bleibt.
Die Szenerie
Beim Gedicht "Die Tote im Wasser" zeigen die ersten zwei Strophen eine Hafenlandschaft am frühen Abend. Das Inventar, Speicher, Dampfer, Mastkräne erinnern stark an Heyms Großstadtgedicht "Berlin I" , es ist die für ihn bezeichnende negative Darstellungsweise der Stadt als lebensfeindlichem zerstörerischem Raum, die technischen Errungenschaften der Zivilisation stehen für Tod und Untergang. Auch hier ist das Bild menschenleer, und selbst die Hinweise auf menschliches Leben sind entweder Abfallprodukte, oder sie wirken "tot" (V.3), "morsch und im Verfall" (V.4) oder "wie ein verbrannter Wald" (V.2).
Die Darstellung der Leiche
Bei dem Blick über das Hafengelände fällt das Auge des Betrachters, der nie selbst als lyrisches Ich auftritt, auf die Abwässer, die "wie eine weiße Haut" (V.7) im Hafenbecken treiben. Er beschreibt die Leiche im weißen Tanzkleid. "Staub, Obst, Papier" (V.9), der Abfall der Stadt wird "ganz" (V.10) aus der Kanalisation geschwemmt.
Die Verwendung der Farbe Weiß
Bei der Beschreibung der Toten nennt Heym viermal das Adjektiv "weiß". „Weiß" steht grundsätzlich für Reinheit, für das Freisein von Sünde im religiösen Verständnis. Wenn es sich bei der "weißen" Person um ein Mädchen handelt, erweitert sich der Symbolgehalt durch das Bild der Jungfrau und Braut, um den ganzen Motivbereich des "gefallenen Mädchens". Dabei darf nicht vergessen werden, daß Weiß gleichzeitig immer auch schon die Farbe des Todes, der Totenblässe war. Heym setzt das Weiß als die Farbe des Kleides, das die Tote trägt. Aber gerade das Tanzkleid passen nicht in das Bild, es verweist auf einen Partner (wie das Brautkleid auch), sowie durch die Tanzvergnügung auf eine flüchtige Liebesbeziehung. Dies kann der Grund für ihren Tod sein.
Das Spiel mit den anderen Farben
Der Autor spielt auf eine ausgeprägte Art und Weise mit Farben. In der ersten Strophe setzt er Grau, Rot und Schwarz für den Verfall ein. Harmonierend werden die „rosa Wolken“ (Z. 16) und kurz darauf auch das „lila Wasser“ (Z. 17) erwähnt. Die Ratten, die in der fünften Strophe den Tod symbolisieren sind Schwarz und Grau. Die letzte Farbe erscheint im 27. Vers - „grünen Tiefe“. Dieses Grün ist widersprüchliche Farbe, für Verfall und saubere Idylle.