Gesellschaftlich-kultureller Kontext um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Gesellschaftlich-kultureller Kontext um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Etwas Neues zu diesem Thema zu schreiben ist von mir problematisch. Die Strömungen zu analysieren ist auch nicht der Schwerpunkt meiner Arbeit, ich versuche jetzt die damalige Situation in der Gesellschaft und Kunst anhand der sekundärliterarischen Quellen zu erläutern. Es ist aber wichtig diese Zusammenhänge zu kennen und mit ihrer Hilfe wichtige Folgerungen im Bezug zum Autor und sein Werk zu machen. Ein Autor lebt schließlich nicht isoliert von verschiedenen Strömungen in der Gesellschaft und Kunst und gerade A. Schnitzler ist ein gutes Beispiel für einen Mensch, der die Richtungen in der Literatur aktiv mitgestaltet hat. Beim „Gustl“ war er Experimentator, erster in der deutschsprachigen Literatur. Er führte neue Erzählweise ein.
Am Anfang werde ich gesellschaftliche Prozesse, die die damalige Literatur beeinflussten, darstellen; zuerst die gesamteuropäische, dann die österreichische. Danach sind die literarischen Strömungen in Österreich näher zu beschreiben; ihnen folgen verschiedene Darstellungsweisen in den Werken dieser Zeit und schließlich Beschreibung der äußeren Form von Schnitzlers Werken Lieutenant Gustl und Frau Else.
Fin de siécle (1870 - 1910) ist eine Sammelbezeichnung für die gegen den Naturalismus gerichteten Strömungen der Literatur, wie Dekadenzliteratur, Jugendstil, Jahrhundertwendeliteratur, Symbolismus, Impressionismus oder Literatur um 1900. (fin de siécle, frz.: Ende des Jahrhunderts)
Die Erfahrung der sozialen Entfremdung und Isolierung erwies sich als gesamteuropäisches Problem. In der Philosophie thematisierte Friedrich Nietzsche (Also sprach Zarathustra), innerhalb der Psychologie entwickelte Sigmund Freud die Psychoanalyse. Seine Traumdeutung trug zu einem modernen Verständnis der menschlichen Natur bei. (...) Auch Max Plancks Quantenphysik und Albert Einsteins Relativitätstheorie veränderten das Weltbild der Jahrhundertwende entscheidend. Angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen entwickelten sich Wien, München und Berlin zu Kulturzentren. Ausdruck dafür sind die Wiener Moderne (das 1890 gegründete Junge Wien um Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Herrmann Bahr und Leopold Adrian), die Berliner Moderne und die so genannte Kaffeehaus-Literatur (Peter Altenberg). (Langermann 2004, 350f)
Das Lebensgefühl in den österreichischen Ländern zwischen etwa 1870 und 1930 ist vielschichtig. Widersprüchliche weltanschauliche Haltungen, gegensätzliche politische Überzeugungen, unterschiedliche Entwürfe vom individuellen Dasein und vom gesellschaftlichen Zusammenleben des Menschen wechseln. Ein optimistisches Gegenwarts- und Zukunftsvertrauen angesichts wirtschaftlichen Aufschwünge und wissenschaftlich-technischer Erfolge steht neben einem krassen Skeptizismus, der die Dekadenz und Morbidität in Staat und Gesellschaft wahrnimmt.
Auf- und Umbrüche vollzogen sich um die Jahrhundertwende zwischen extremer Traditionsbewahrung und extremem Avantgardismus. Sie ereigneten sich in schneller Abfolge hintereinander, öfters sogar parallel zu derselben Zeit. (...) Als der Steirer Peter Rosegger seine biedermeierlich getönten Geschichten Als ich noch ein Waldbauernbub war (1902) herausbrachte, sorgte Wiener Arthur Schnitzler mit der Erzählung Lieutenant Gustl (1900) für öffentliche Skandale.
Vom auktorialen biedermeierlichen oder realistischen Erzählen (Rosegger, Saar) bis zum impressionistischen inneren Monolog (Schnitzler), vom historisch-realistischen Dramendialog (Kranewitter) bis zum leichten impressionistischen Konversationston (León - Lehár) und der symbolischen Bildersprache bzw. theatralischen Darstellungsweise (Hofmannsthal) ist hier alles vertreten, was im Rückblick diese Periode in vielen Facetten leuchten lässt. (Zeman 1996, 377f)
Seine Erzählungen Lieutenant Gustl und Frau Else haben mit dem Spiel die geschlossene Form, hier die des konsequent eingehaltenen inneren Monologs, gemeinsam: Ohne jede Exposition berichtet Schnitzler allein aus der Wahrnehmung der Hauptfigur, alle Wahrnehmungen der Außenwelt, vor allem die Auftritte anderer Menschen, gehen durch den Kopf der Hauptfigur (...). Diese radikal subjektive Darstellung zwingt den Leser „mitzuspielen“ , sich zunächst den Standpunkt der Hauptfigur vollkommen zu eigen zu machen, da „Realität“ nur über diese subjektive Form des Monologs zu erfahren (richtiger: zu rekonstruieren) ist. Damit dringen diese Erzählungen zu einer Intimität vor, die mit andern Darstlellungsformen nicht erreicht werden kann - aber die „Nähe“ ergibt sich dadurch nicht. (Ehlert 1989, 327)