Ganz wie daheim

Ganz wie daheim
(adaptiert und gekürzt nach Richard Christ)


Erziehung, sagt mein Freund Ziberkopf, ist nur nach Plan und Methode möglich. Allerdings muss ich zugeben, dass in der Pädagogik manchmal auch Spontaneität verlangt wird. Wie bei der Familie Raudi, da war ich nämlich abends hingegangen, um für „Mach mit“ zu werben. Aber als mir Raudi junior die Tür öffnete, zögerte ich einen Augenblick - und änderte mein Vorhaben.
Vater Raudi bat mich ins Zimmer, ich setzte mich auf die Couch und legte die Füße gegenüber auf den Sessel. Herr Raudi blickte mich verständnislos an, sagte aber nichts. Ich stand noch einmal auf, öffnete weit das Zimmerfenster, so dass die Gardine vom Zugwind hinausgeweht wurde, dann zündete ich mir eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Teppich. Ich rauchte, streute auch die Asche auf den Teppich und sah Herrn Raudi herausfordernd an. Der ging merklich unsicher hinaus.
Ich konnte verstehen; was er auf dem Flur zu seiner Frau sagte: „Du kennst doch Herrn Ziberkopf auch schon länger, ist dir aufgefallen, ob er Verhaltensstörungen hat?“ Die Frau betrat das Zimmer. Inzwischen hatte ich das Radio angestellt. „Mein Gott!“ schrie sie, „stellen Sie doch das Radio leiser, man kann sich ja gar nicht verständigen!“
„Wenn Sie sprechen wollen, gehen Sie doch nebenan,“ sagte ich unfreundlich.
Mann und Frau sahen sich ratlos an. Herr Raudi riss den Stecker heraus, der Radiolärm erstarb augenblicklich. Er stellte sich drohend vor mich hin und rief: „Björn-Heiko, schnell komm rüber, wirf diesen Rabauken hier raus, ich glaub', der ist verrückt geworden!“ Björn-Heiko erschien Kaugummi kauend, sein Vater schrie erneut: „Guck dir das an, dieser Lümmel fläzt sich mit seinen Schuhen aufs Polster, schnippt die Asche auf unseren Teppich und macht Krach!“
Björn-Heiko, ein Schlaks (dlháň) in der blauen Einheitsverpackung trat kauend auf mich zu. Ich sagte freundlich: „Eh, Kumpel! Kennst du mich denn nicht? Wir fahren doch jeden Tag mit der gleichen S-Bahn und benehmen uns doch im Abteil ganz so wie daheim...“
Björn-Heiko war sichtlich sprachlos. Ich sah es weniger an seiner Mimik als daran, dass seine Kiefer das Kauen unterbrachen. Ich stand auf und ging ohne weitere Demonstrationshandlungen. Ich sah noch, wie Raudi senior seinen Sohn anstarrte, als habe er soeben das erste Mal durch die Jeanshülle hindurch dessen Wesen erfasst. Von der Mutter hörte ich nur das immer stärker werdende Weinen.
Dies also - schloss Ziberkopf - war meine spontane Erziehungsaktion.
„Du glaubst, sie hat genutzt?“ fragte ich ungläubig.
„Nachweislich,“ sagte Ziberkopf. „Ich weiβ hundertprozentig, dass Björn-Heiko seit neuestem nicht mehr nach dem Einsteigen in die S-Bahn die Polster mit den Schuhen beschmutzt, er stört auch keinen mehr mit seinem Fenster-Aufreiβen und dem Lärm, er spuckt nicht mehr ins Abteil, reiβt nichts von den Wänden und belästigt keine Mitfahrenden mehr - er benimmt sich wirklich tadellos.“
„Gratuliere, groβer Pädagoge,“ sagte ich mit ehrlicher Anerkennung.
„Nicht mein Verdienst,“ sagte Ziberkopf bescheiden. „Vater Raudi hat seinem Sohn nämlich ein Auto gekauft.“