Friedrich Dürrenmatt: Die Panne
Friedrich Dürrenmatt: Die Panne
(Erzählung, 1956)
„Die Panne“ gibt es als Erzählung, Hörspiel, Theaterstück und Fernsehspiel.
Im „Ersten Teil“ der Erzählung fragt Friedrich Dürrenmatt: „Gibt es noch mögliche Geschichten, Geschichten
für Schriftsteller?“ Er hält nichts davon, von persönlichen Hoffnungen und Niederlagen zu schreiben,
„wie wenn Wahrhaftigkeit dies alles ins Allgemeine transponieren würde“. Den gängigen Forderungen nach
Seele und höheren Werten steht er kritisch gegenüber („irgendetwas soll überwunden oder bejaht werden, bald
Christentum, bald gängige Verzweiflung“). Lieber sieht er sich wie einen Bildhauer, der sein Material formt
und bearbeitet – ohne von seinen inneren Antrieben zu reden. Und dieses Material findet er, wo „aus einem
Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit
sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen“.
Der „Zweite Teil“ besteht aus der eigentlichen skurrilen Geschichte: Das Spiel der Greise bringt den
Durchschnittsmenschen Traps dazu, sich stolz eines Mordes zu bekennen, den er nicht beging. Allerdings nahm
er den Tod seines Chefs durch die Aufregung über sein Verhältnis mit dessen Frau in Kauf und profitierte beruflich
davon. Durch das Bekenntnis zu einem geplanten Mord kommt sich Traps bedeutend vor. Und dieses
gute Gefühl lässt er sich nicht mehr nehmen.
Inhalt: Der 45-jährige Generalvertreter Alfredo Traps arbeitet für eine Kunststofffirma. Gegen Abend,
eine Stunde, bevor er seinen Wohnort erreicht, streikt sein Studebaker. In der Dorfwerkstatt wird man den Wagen
nicht vor dem nächsten Morgen reparieren können. Nun hätte Traps die Möglichkeit, mit dem Zug nach
Hause zu fahren, zu seiner Frau und seinen vier Söhnen, aber er zieht es vor, hier zu übernachten. In den Gasthöfen
ist wegen einer Tagung der Kleinviehzüchter kein Zimmer mehr frei, aber man weist ihm den Weg zu
einer Villa, deren Bewohner hin und wieder Gäste aufnimmt.
Der alte Herr, der mit seiner Haushälterin Simone in der Villa wohnt, heißt den Reisenden willkommen
und lädt ihn zum Abendessen ein. Traps wäre lieber zum Essen in einen Landgasthof gegangen, weil sich da
vielleicht die Gelegenheit für ein amouröses Abenteuer ergeben hätte, aber er kann die freundliche Einladung
nicht abschlagen.
Der 87-jährige Gastgeber empfängt noch drei weitere Gäste: Pilet ist 77, Kummer 82, Zorn 86. Ob
Traps bereit sei, bei einem Spiel mitzumachen, fragen die Herren. Sie führen täglich eine Gerichtsverhandlung
durch; meistens befassen sie sich mit bekannten Fällen aus der Geschichte, aber erst vorgestern konnten sie
einen Parlamentarier, der den letzten Zug versäumt hatte, wegen Erpessung und Bestechung zu 14 Jahren
Zuchthaus verurteilen. Beim Gastgeber handelt es sich um einen pensionierten Richter; Zorn war Staatsanwalt,
Kummer Strafverteidiger und Pilet Henker. Traps soll die Rolle des Angeklagten übernehmen.
Während Simone ein köstliches Gericht nach dem anderen serviert und man zu jedem Gang eine teure
Flasche Wein entkorkt, erzählt Traps, er habe sich nach einer entbehrungsreichen Jugend vom Hausierer zum
Alleinvertreter des Kunststoffunternehmens „Hephaiston“ emporgearbeitet. Vor einem Jahr, berichtet er stolz,
wechselte er von einem klapprigen Citroen zu einem roten Studebaker. Er ist seit elf Jahren verheiratet, doch
unterwegs – so gibt er den Greisen zu verstehen – ergibt sich schon mal die Gelegenheit für einen Seitensprung.
5
Kummer, der als Traps Verteidiger auftritt, versucht dessen Redefluss zu bremsen. Vergeblich. Erst
nach einiger Zeit kann er ihm begreiflich machen, dass das Spiel, das heißt die Verhandlung, bereits begonnen
hat. Unter vier Augen rät er dem Angeklagten, etwas zu gestehen, aber der ist sich keines Gesetzesverstoßes
bewusst und weigert sich lachend, beispielsweise einen Betrug zuzugeben. Kummer ist verzweifelt, denn die
Unschuldsbeteuerung des Angeklagten hält er für eine aussichtslose Taktik.
Der Staatsanwalt fragt den Angeklagten, wie er es denn zu einem Studebaker gebracht habe. „Aufpassen“,
zischt der Verteidiger, „jetzt wird's gefährlich.“ Unbekümmert erzählt Traps, er habe seinen damaligen
Chef Gygax verdrängt, um auf der Karriereleiter weiterzukommen und sich ein besseres Auto leisten zu können.
„Meine Herren, Sie werden ein offenes Wort ertragen. Es geht hart zu im Geschäftsleben, wie du mir, so
ich dir, wer da ein Gentleman sein will, bitte schön, kommt um.“ Wie es Herrn Gygax geht, möchte der Staatsanwalt
wissen. „Er ist letztes Jahr gestorben“, antwortet Traps. Mit 52 an einem Herzinfarkt. „Sind Sie toll?“,
zischt der Verteidiger.
Zug um Zug findet der Staatsanwalt heraus, dass Gygax schon einige Jahre vorher einen ersten Herzinfarkt
hatte und seine Frau wusste, wie gefährlich Aufregungen für ihn waren. Von ihr erfuhr es Traps, der eine
Affäre mit ihr hatte. Bücher von Dieter Wunderlich Mit dem Verhältnis prahlte Traps gegenüber einem konkurrierenden
Kollegen, und von dem erfuhr es Gygax. „Es gab ihm den Rest.“ In seinem Schlussplädoyer weist der
Staatsanwalt darauf hin, dass der Angeklagte in hinterhältiger Weise für eine tödliche Aufregung seines Chefs
gesorgt habe. Dass er das Verhältnis mit der Witwe beendete, beweise, dass die Frau für ihn nur ein Mittel zum
Zweck gewesen war, die Mordwaffe sozusagen. Traps hört begeistert zu. Ja, so war es! Er hatte das alles von
Anfang an so geplant. Der Abend ist gelungen, das Spiel macht Spaß. „Dass man ihm einen Mord zumutete,
bestürzte ihn zwar ein wenig und machte ihn nachdenklich, ein Zustand, den er jedoch als angenehm empfand,
stieg doch eine Ahnung von höheren Dingen, von Gerechtigkeit, von Schuld und Sühne in ihm hoch, erfüllte
ihn mit Staunen.“
Als der Verteidiger versucht, die Beweisführung des Staatsanwalts zu widerlegen und bestreitet, dass
der Angeklagte sich mehr als die üblichen unfairen Methoden im beruflichen Existenzkampf zu Schulden
kommen ließ, protestiert Traps empört: „Aber ich habe doch gemordet!“ Er fühlt sich unterschätzt und begehrt
gegen seinen Verteidiger auf, der einen Freispruch verlangt.
Der Richter, der inzwischen stark betrunken ist, spricht unter dem Gelächter und Gekreisch der anderen
Herren das Urteil und verhängt über den Angeklagten die Todesstrafe. Traps nimmt das Todesurteil freudig an.
Der Henker und der Angeklagte torkeln zu den Schlafräumen. Pilet bricht auf der Treppe zusammen
und schläft auf der Stelle ein. Der Richter, der Staatsanwalt und der Verteidiger, die noch den Urteilsspruch zu
Papier gebracht haben, müssen sich auf der Treppe gegenseitig stützen. Sie wollen dem Angeklagten das Dokument
aufs Bett legen. Als sie die Tür des Gastzimmers öffnen, fällt ihr Blick auf seinen am Fenster hängenden
Leichnam.