Die Interpretation des Gedichtes „Der Gott der Großstadt“
Die Interpretation des Gedichtes „Der Gott der Großstadt“
Das Gedicht „Der Gott der Stadt“ stammt aus dem Jahre 1910 und gehört zu den bekanntesten expressionistischen Gedichten von diesem Autor, das das Thema die Großstadt behandelt. Zuerst beschreibe ich das Bild der Stadt, mit dem der Autor konfrontiert wurde, dann versuche ich anhand der expressionistischen Merkmale das Gedicht zu interpretieren und schließlich widme ich mich der formalen Seite des Gedichts. Um die Interpretation nachvollziehen zu können, steht das Gedicht mit nummerierten Zeilen im Anhang der Seminararbeit auf der Seite 15.
Um das Gedicht verstehen zu können, muss man sich solche Großstadt wie Berlin nach der Jahrhundertwende vorstellen zu können. Sie ähnelte den Städten von Heute und man muss bedenken, dass man schon damals neben den Kutschen mit Pferden auch Straßenbahn und Benzinwagen sah. Die Hauptstraßen mussten also sehr breit und vor allem verkehrsreich sein. Neben den kleinen dicht gebauten Häuserblocken fand man auch große Gebäude wie das Abgeordnetenhaus oder das Königliche Museum in Berlin und viele große Fabriken mit hohen Schornsteinen. Über die Stadt bildeten sich wie heute Dünste, weil der Wind nicht wie im Land wehen kann, und aus den Schornsteinen zog Rauch auf, der den Himmel dunkler machte.
Ähnliches Bild hatte auch Georg Heym vor sich, als er das Gedicht schrieb. Er sieht aber die Stadt nicht starr, sondern in der Bewegung. In der ersten Strophe wird der Tag geschildert, in der zweiten und dritten der Abend und in der vierten und fünften die Nacht, wobei das Gedicht wieder mit dem Tag endet. Die Künstler der Moderne betrachteten nämlich die Welt nicht mehr als etwas Statisches, weil sie sich durch Kapitalismus und Industrialisierung sehr schnell änderte. Die Künstler versuchten deshalb Eindrücke und Momente in ihren Werken festzuhalten. So ist es auch in diesem Gedicht. Der Gott, den ich später noch klären werde, sitzt er in der ersten Strophe und schaut in die Ferne (Z. 3). Das kann man eigentlich nur während des Tages tun, wenn die Sichtbarkeit gut ist. Dann in der zweiten Strophe bestrahlt die abendliche Sonne seinen Bauch rot, was klar den Abend ausdrückt (Z. 5) In der vierten Strophe kann man sogar den Übergang von Abend zur Nacht nachvollziehen. „Der dunkle Abend“(Z.14) wird immer dunkler, bis er „in Nacht betäubt“ (Z. 15) wird. In der letzten Strophe streckt er seine Faust „ins Dunkel“, womit der nächtliche Himmel gemeint ist, bis schließlich am Ende dieser Strophe „der Morgen tagt“ (Z.16). In jedem Fall haben wir hier eine Handlung. Jetzt erkläre ich, wer der Protagonist der Handlung ist und was er hier macht. Schon der Titel sagt an, dass es sich um einen Gott handelt und zwar um den„Baal“ (Z.5). Der Baal stellt einen Fruchtbarkeits-, Wetter- oder Donnergott in Kanaan dar. In der jüdischen und christlichen Religion ist der Baal daher ein heidnischer Gott und wird als „Götze“ bezeichnet. Götzen wiederum sind „falsche Götter“ oder Abgötter. Im Gedicht handelt es sich aber nicht um den richtigen Gott in dem theistischen Sinne, sondern man muss ihn in dem übertragenen Sinne betrachten. Er stellt das Abbild der Menschen, die sich imperialistisch in der Welt ausbreiteten, und die Ursache solches Leben. Um sich diesen Gott vorstellen zu können, wie er auf den Häusern sitzt, in Ferne schaut,... bis er seine Faust streckt, muss man das Bild der Dünste über der Stadt vor sich haben. Da das Wehen des Windes in Städten wegen der großen Gebäuden gehindert ist, sind die Wolken, die Dünste und der Rauch dichter gemischt als im Lande, wo der Wind das Alles zerstreut. Deshalb kann sich Heym aus diesen Dünsten einen Gott über den Häusern vorstellen, dem der schwarze Rauch aus Schornsteinen um seine Stirn sich lagert.(Z.1-3). Man würde sich an dieser Stelle wundern, wie kann man den Wind sehen und lagern. Aber wenn man sich die große schwarze Masse des Rauchs im Wind vorstellt, dann ist es klar, dass sie sich im Wind auch bewegt und formt. Der Wind ist also schwarz, weil er voll von Rauch ist und er lagert sich, weil es so große Masse von diesem Rauch gibt. Selbstverständlich ist dieses Bild übertrieben dargestellt, aber gerade darum geht es im Expressionismus. Die Autoren verzerrten die Wirklichkeit, um erstens zu schockieren und zweitens um eigenen inneren Blick auf die Wirklichkeit zu schildern. So schaut der Gott voll Wut (Z.4), weil die Form des Rauchs den zusammengezogenen Augenbrauen ähnelte und weil der Autor das Böse dieses Gottes zeigen wollte. Daraus ergibt sich, dass die Expressionisten nicht in ihren grauenhaften Vorstellungen und Fantasien lebten, sondern sie gingen aus der Wirklichkeit aus. Der Baal ist also wütend und schaut „den letzen Häusern in das Land“ (Z. 4) nach, weil sie nicht zu der Stadt gehören und somit hat er sie nicht unter seiner Macht. Daraus ergibt sich, dass das Land sauber und frei vom bösen Gott ist und das Gute vorstellt. Um das Wort „verirrn“ in der vierten Zeile verstehen zu können, muss man sich wieder ein Bild dieser Situation vorstellen. Man sieht also eine ungeheuere Menge von schön an sich geordneten Häusern, die eine Stadt vorstellt, ausser der ein Paar kleiner Häuser stehen. Das ist das gleiche, als wenn man einen Haufen von Menschen vor einem Podium mit einer spielenden Musikgruppe sieht, neben der ein Paar Leute herumstehen und nicht ins Publikum gehören. Da würde man sich auch fragen, ob sie nicht verirrten und ob sie wissen, dass ein Konzert stattfindet. Man sieht auf diesem Beispiel, dass man bei expressionistischen Gedichten eine große Vorstellungskraft haben muss, um die Lust haben, sie zu lesen und sie auch zu verstehen. Anfangs zweiter Strophe glänzt Baals Bauch rot, was man mit den roten Wolken bei untergehender Sonne vergleichen kann. Dabei muss man aber sagen, dass die rote Farbe hier symbolisch gemeint ist und zwar sie evoziert das Feuer und den Wut, was in der letzten Strophe klar wird. Hier kann man also eine Vorhersage einer Katastrophe finden, was es oft in Heyms Gedichten der Fall ist. Deshalb liest man über seine Werke, dass sie realistische aber auch visionäre Elemente erhält. Er geht also aus der Wirklichkeit aus, die er durch seine Vorstellungen und Visionen verzerrt. Weiter knien die großen Städte um Baal her (Z. 6), was erstens ihre „geistige“ Kleinheit und zweitens ihren Verlust von Individualität zeigt. Die industrielle Stadt in der technischen Epoche wird mit dem Gott in Zusammenhang dargestellt. Dabei spürt man den Kontrast des Technischen und des Geistigen und damit kann man auch die Wut des Gottes im anderen Sinne zu erklären. Die Expressionisten wollten nämlich in der modernen Welt ihre Seele wiederfinden, deshalb widmeten sich vor allem ihren Gefühlen. Obwohl das Motiv des Gottes dabei eher eine Ausnahme bildet, repräsentiert er aber auch die geistige Seite der Menschen und somit auch den Kontrast zu der kritisierten Epoche. Der Geist der Expressionisten war voll Wut wegen der „neuen“ Welt und so ist auch der Gott Baal wütend. Dabei muss man aber sagen, dass er ursprünglich wegen seines Böses und seiner Zerstörungskraft wütend ist.
In den nächsten Versen und in der dritten und vierten Strophe wird die Stadt näher beschrieben. Sie hat also viele Türme. Diese Aussage wird durch die Metapher „Türme Meer“(Z. 8) verstärkt. In diesen schwarzen – schmutzigen Türmen gibt es also Kirchenglocke, die zu ihm hochstreben. (Z. 7-8). Daraus kann man schließen, dass die Kirche als etwas Geistiges und Geistliches gegen die Katastrophe, die in der letzten Strophe kommt, nichts tut. Oder man kann vermuten, dass sie sogar mit dem Baal sympathisiert. Die Türme mit Glocken, ein Symbol der Kirche, streben nämlich zu ihm hoch. In jedem Fall spielt die Kirche, der Gott und der Glaube in Expressionismus keine wichtige Rolle. Die Expressionisten schildern auch keine Ursache und auch keine Lösung der Katastrophe, sondern sie existieren nur und schreien ihre Gefühle in die Welt. Weiter sieht man in der Stadt viele Schornsteine, die „Wolken der Fabrik“ (Z. 11) – also den Rauch auspuffen, der aber mit „Duft von Weihrauch“ verglichen wird. Das bedeutet, dass die Stadt mit dem Baal huldigt. In der Stadt sind Straßen, durch die Millionen Korybanten-Tanz tanzen, woraus es klar wird, dass es sich um eine Großstadt handelt. Der Korybanten-Tanz stellt in der altgriechischen Mythologie den Kampftanz Korybants, eines Priesters der Göttin Kybely, vor, der zum Denkmal der Rettung des kleinen Zeus vor seinem Vater Chron diente. Im Zeus sieht man vorbildlich eine Willkür und eine Autorität, die man auch im Gott Baal finden kann. In diesem Sinne huldigen die Menschen, die Korybanten-Tanz tanzen, dem willkürlichen Baal, dass heisst, sie wollen selbst die Katastrophe hinzuziehen. Hier findet man das Heyms Motiv von Irren und verrückten Menschen, denen nicht bewusst ist, wohin die kapitalistische und industrielle Entwicklung geht. Dabei sind die Mensche als eine anonyme Gruppe geschildert. Das bedeutet, sie verloren die Individualität und sie sind nur ein Teil der großen Maschinerie geworden. Und gerade dagegen kämpften die Expressionisten, die ihre Seele und ihre Individualität wieder haben wollten.
In der vierten Strophe wird der Abend zur Nacht (Z. 14), was die bevorstehende Katastrophe vorhersagt. Der Baal wird immer zorniger, was sich auf dem verschlechterten Wetter zeigt (Z. 13-16). Stürme des Unwetters vergleicht der Autor mit den Geiern (Z. 15), die nur darauf warten, die Leichen auffressen und somit die Katastrophe vollenden. In dem fünfzehnten Vers taucht eine ungewöhnliche Wortkombination „die Stürme flattern“. Obwohl die Stürme mit den Geiern verglichen wurden und sie können flattern, ist diese Personifikation sowieso merkwürdig. Eine Erklärung kann lauten, dass es sich um eine Vorwarnung handelt. Die Stürme – Geier sind schon ungeduldig und sie können das Warten nicht mehr aushalten. Das bildet eigentlich eine Spannung im Gedicht, wenn man auch bedenkt, dass sich im Gedicht eine Steigerung der Handlung befindet. Zuerst sitzt der Baal während des Tages, dann verschlechtert sich das Wetter am Abend, bis schließlich in der letzten Strophe der Verlauf der Vernichtung in der Nacht beschrieben wird. Dabei muss man wieder bedenken, dass der Autor aus der Wirklichkeit ausgeht und dass diese Zerstörung nur das Verzerren der Wirklichkeit ist. Erst um Jahr 1880 wurde die Glühbirne konstruiert, deshalb kann man vermuten, dass um Jahr 1910 neben den Straßenlaternen noch immer die Fackel die Straßen beleuchteten, die man in der Nacht eine nach der anderer anzündete. Deshalb jagt ein Feuer – die anzündeten Straßenlaternen und Fackel – durch eine Straße, die brausen. Und morgen löscht man sie wieder, deshalb endet die Katastrophe, wenn der Morgen tagt. (Z.20). Heym verzerrt dieses Bild aber und beschreibt wie der Baal seine Fleischerfaust in die Nacht streckt, um die Stadt zu zerstören. Man sieht also, dass den Baal gerade die schwarze, dunkle Farbe und die Nacht charakterisiert, was den Kontrast zur Natur, Unschuldigkeit und zum glücklichen Leben bildet.
Die formale Seite des Gedichts ist eher traditionell gestaltet, was in die moderne Kunst passt, aber bei Heym ist das ganz üblich. Das Gedicht besteht aus fünf Strophen, die immer durch vier Verse gebildet sind. Auf der Form ist aber die Auswahl der Sprachmittel interessant. Obwohl die Wahrnehmung durch mehrere Sinnenorgane in den expressionistischen Gedichten eine große Rolle spielt, bilden die Gedichte von Heym eine Ausnahme und sie wirken eher traditionell. Neben der Visualisierung findet man hier aber auch die Verben wie „dröhnen“ (Z. 9) oder „brausen“ (Z. 19), die uns die unangenehmen Klänge vermitteln. Auch die Wörter wie „Nacht“ (Z. 14), „Stürme“ (Z. 15) oder „Dunkel“ (Z. 17) evozieren eine negative und kalte Atmosphäre und sind für Expressionismus sehr typisch. Zu den häufig benutzten Stilmitteln in der modernen Kunst gehört die Personifikation. In diesem Gedicht handelt es sich um die Ausdrücke wie die Häuser verirren (Z. 4) oder die Städte knien (Z. 6). Das hat zur Wirkung, dass man neben den lebendigen Wesen eine engere Beziehung auch zur Sachen herstellt und somit gewinnt das Gedicht an Interesse. Der Leser kann sich nämlich auch mit Sachen identifizieren und mit ihnen mitfühlen. Als Metapher ist hier die Zeile achtzehn zu nennen: „Ein Meer von Feuer jagt“. Obwohl das Feuer und das Meer nicht zusammenpassen, muss man zwischen ihnen andere Ähnlichkeiten finden. Das Meer bedeutet in diesem Sinne eine Große Menge von einem Stoff, in diesem Fall von Feuer, wobei das Meer die Fähigkeit hat, die Gegenstände „auffressen“. Und gerade das macht das Feuer – „Glutqualm“ (Z. 19) mit der Straße, es „frisst sie auf“ (Z. 20). Weiter sind ungewöhnliche Wortkombinationen und Verfremdungen wie „die Winde lagern“ (Z. 2) oder „die Stürme flattern“ zu nennen. In der alltäglichen Sprache benutzt man solche Wortverbindungen nicht und sie sind auch schwer vorstellbar. Man versteht sie nur, wenn man sie im Kontext liest. Zum Beispiel Winde können nicht lagern. Diese Wortverbindung ist semantisch falsch und man kann sagen, dass sie einen Kontrast bildet. Wenn man aber bedenkt, dass die Luft so verschmutzt ist, dass man schwarze Windströmungen sehen kann, so gewinnen die Wörter am klaren Sinn. Ein weiteres wichtiges Element des Expressionismus ist der Reihungsstil. Fast alle Strophen bestehen aus zwei Sätzen, wobei sie meistens in keinem semantischen Zusammenhang stehen. Der Autor benutzt auch keine modale oder kausale Konjunktionen, er schildert nur die verzerrten Bilder. Dynamisierung ist ein weiteres Merkmal des Expressionismus. In den ersten drei Strophen, wenn es noch Tag und Abend ist, findet man statische Verben wie sitzen (Z. 1), lagern (Z.2) oder knien (Z. 6). Wenn es aber Nacht wird, aktiviert sich der Baal mit den Verben der Bewegung wie werden (Z. 14), flattern (Z. 15) oder jagen (Z. 18).