Deutsche Literatur 63
Dem Bankprokuristen K. wird durch diese Instanz der Prozess gemacht, doch nur so, dass er blind und lösungslos, das Opfer wird. Dieser Prozess scheint sich aus der Beschaffenheit des Menschen zu ergeben, der bis dahin über die Durchschnittlichkeit seines Lebens nicht hinausgeblickt hat. Er ist nicht das, was er vor diesen letzten Instanz sein müsste.
In der Erzählung ”Die Verwandlung” findet sich ein Mann als er morgens erwacht in einen Käfer verwandelt. Das Bild deutet darauf hin, dass diesem Mann die eigentlich menschliche Beschaffenheit fehlt, dass er seinem Wesen nach, den tierischen zugehört. In dem K. den Menschen in seiner grundsätzlichen Unzulänglichkeit aufdeckt, ruft er zu Überwindung dieses Menschen auf, doch kann er das Erlösende weder zeigen noch vollziehen. Er zeigt nur den Menschen, der Gott verloren hat, nur den Menschen in seiner Verlorenheit und Nichtigkeit. Dies entspricht dem überlieferten jüdischen Bild vom Menschen. Doch man sieht keine Erlösung des Menschen in Gott. Gott ist nur noch da als der Richter im Hintergrund, als die Macht, die über den Menschen das Verdammungsurteil spricht. Der Mensch gewinnt kein Zugang zu dem Schloss, das Paradies sein könnte und er wird nur in der Folge eines anonymen Prozesses likvidiert.
K.-s Menschenbild ist, wenn man annimmt ihn richtig verstanden zu haben, pessimistisch, ja nihilistisch. Damit steht K. in seiner Zeit nicht allein, sondern in einer ziemlich breiten literarischen Bewegung. Sie äußert sich entweder in der nihilistischen Bestimmtheit des literarischen Menschen, also in der Lyrik oder im kritischen Blick an die Menschen in seiner Zeit, das geschieht im Drama.
K. selbst hat nur 6 Publikationen, darunter das unter dem Titel ”Der Heizer” /1913/ erschienen erste Kapitel des Romans ”Der Verschollene” und andere Erzählungen in Buchform herausgegeben. Dem Roman Der Verschollene hat er eigenmächtig den Titel ”Amerika” gegeben.
Fast von gleicher literarischen Bedeutung, wie K. Erzählungen und Romane, sind seine ebenfalls posthum (nach dem Tod) publizierten Tagebücher, seine Briefe, bemerkenswert die ”Briefe an Milena” eine tschechische Kafkaübersetzerin und die erst 1967 publizierten ”Briefe an Felice”, die zeitweilig mit dem Autor verlobt war und bis zu einen gewissen Grad auch die von Gustav Janov aufgezeichneten ”Gespräche mit Kafka” /1951/. Die Erzählung in der Strafkolonie entstand zur gleichen Zeit wie der Prozess. Hier wird jenes System , in dem der Verurteilte wie im Prozess das Urteil noch nicht einmal erfährt, sondern nach dem Grundsatz, die Schuld ist immer zweifellos, zu Tode gemartert wird, der inzwischen historisch überwundenen Epoche des alten Kommandanten zugeschrieben.
Dennoch sieht K. nicht wie viele Expressionisten den befreiten Menschen, der das Zeitalter der Unterdrückung und Ausbeutung ablöst. K. erzählt stets einsinnig nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der 3. Person. Alle Empfindungen, Gedanken und Beobachtungen sind das Eigentum des jeweiligen “Helden”. Nichts wird in seiner Abwesenheit erzählt. Aller Außenraum ist zugleich Innenraum, wie das Geschehen ist auch diese einzige Perspektive für den Leser unausweichlich. Es ist eigentlich immer dieselbe Perspektive, die von Kafka, Joseph K. in Prozess und K. der Landvermesser im Schloss, kürzen K.-s eigenen Namen ab, verkleinern ihn zu Kunstnamen.
K.-s Hauptfiguren unterscheiden sich in der Atmosphäre und Psychologie kaum voneinander. Sie sind im Grunde genommen nur eine Figur Franz Kafka, Kafkas Träume. Allerdings keine Träume, die nur ihn persönlich etwas angehen. Mit seinen Träumen, die er sozusagen schamlos mitteilt, hat Kafka zur Selbsterkenntnis eines ganzen Jahrhundert beigetragen.