Deutsche Literatur 49
Frage Nr.16 Die Literatur um die Jahrhundertwende
Heinrich Mann. Professor Unrat oder das ende eines Tyrannen.
Mann setzte seine satirische Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich nach dem Roman Im Schlaraffenland (1900) mit Professor Unrat oder das ende eines Tyrannen fort . Im Unterschied zu anderen Darstellungen wilhelminischer Schulerfahrungen ( Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Hermann Hesse, Thomas Mann u.a. ) zielt Mann nicht auf eine karikierende Schulsatire oder eine Darstellung pubertären jugendlichen Leidens, ihm dient die Schule vielmehr als Model für die Darstellung zeittypischer Machtstrukturen , für das Funktionieren von Gewalt und ihre Wendung ins Anarchische.
Der Repräsentant des wilhelminischen Bürgertums, der tyrannische und machtbesessene Gymnasialprofessor Raat, Unrat genannt, quält die Gymnasiasten einer kleinen Stadt, die als Lübeck identifiziert werden darf , auf jede nur denkbare Weise. Auf der Suche nach unbotmäßigen Schülern , die zu fassen und deren Karriere zu beenden , gerät er in die Spelunke „Zum blauen Engel“ und allmählich in den Bann der Künstlerin und Barfußtänzerin Rosa Fröhlich. Damit schwindet auch , je mehr sich seine unterdrückte Sinnlichkeit, durchsetzt, seine Autorität gegenüber seinen Schülern . Nun wendet er sich gegen die Gesellschaft , die er tyrannisch repräsentiert und die ihn fallengelassen hatte. Durch seine Liebe zur Künstlerin Fröhlich entgleist er und muss dadurch seinen gesellschaftlichen Untergang erleben.
Da sich Heinrich Mann seit 1892 intensiv mit Nietzsche beschäftigte , könnte man sagen , dass die Moralkritik und die Umwertung aller Werte auf Nietzsches Philosophie schließen lassen . Allerdings wird dieser Umschwung der Moral von Mann nicht positiv bewertet. Heinrich Mann schafft mit Unrat und dessen Beitrag zum Werteverfall eine, für den exemplarischen Bürger des Kaiserreichs, Skandalfigur .
DER HISTORISCHE HINTERGRUND VON HEINRICH MANNS „PROFESSOR UNRAT“
Heinrich Mann gibt in Professor Unrat keine exakte zeitliche Festlegung an. Allerdings wird an einigen stellen klar ,das der Roman zwischen 1880 und 1890 in Lübeck, also im wilhelminischen Kaiserreich unter der Herrschaft von Wilhelm II spielt. Ende des letzten und Anfangs dieses Jahrhunderts kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Bevölkerung in Deutschland sowie in ganz Europa. Etwa zeitgleich erlebte die Wirtschaft im Zuge der industriellen Revolution einen Aufschwung in einem Ausmaß, wie es bisher unvorstellbar gewesen war. Diese beiden Aspekte führten zu einer politischen Stimmungslage, die Deutschland über seine bisherigen Grenzen hinaus auszudehnen trachtete. Das Nationalbewusstsein wollte Deutschland Weltgeltung verleihen. Im Zuge der imperialistischen Aufbruchsstimmung der wilhelminischen Ära wuchsen die überseeischen Interessen und Deutschland reihte sich kurzzeitig in den Kreis europäischer Kolonialmächte ein. Man betrieb militärische Aufrüstung im großen Stil und wollte mit Hilfe des 1889 gegründeten Flottenvereins die englische Vorherrschaft über die Meere unterbinden. Die im Wilhelminismus symptomatische Konzentration auf die nationale Identität und Größe der Deutschen fand auch Ausdruck in einem Kunst- und Literaturverständnis, das die "germanischen" Ursprünge des Volkes und die historischen Höhepunkte Deutschlands betonte und sie zum Beispiel im Niederwalddenkmal (1883), im Kyffhäuserdenkmal (1891-1896) und im Völkerschlachtdenkmal (1898-1913) – monumental überhöhte. Eigenschaften wie Ehre, Treue, Pflicht und Vaterland prägten das politische als auch persönliche Selbstverständnis des wilhelminischen Deutschen und dienten zugleich als begriffliche Grundlage, auf der sich der bürokratisierte Obrigkeitsstaat mit seinen autoritären Strukturen entfalten konnte. Legitimiert durch die Einigung Deutschlands von oben, durch wirtschaftliche und außenpolitische Erfolge und durch das traditionelle, kirchlich abgesegnete Gottesgnadentum, behauptet der Kaiser seine Autorität im Staat und bewahrt sie trotz aller Kritik von liberaler und sozialdemokratischer Seite . Anders als im Untertan hat Heinrich Mann hier kein umfassendes Panorama der Gesellschaft des Kaiserreichs gegeben, sondern er verdeutlicht exemplarisch am Beispiel der Institution Schule ,sowie an der Figur des tyrannischen Lehrers und an der Gesellschaft der Stadt seine Gesellschaftskritik. Die traditionsreiche Hansestadt Lübeck zählt im Kaiserreich neben Bremen und Hamburg zu den Stadtstaaten, die aufgrund ihrer republikanischen Verfassung eine gewisse Sonderrolle im ansonsten monarchisch organisierten politischen System des Kaiserreichs einnehmen. Die Stadt wird kollektiv durch das Patriziat geführt, ganz anders als die Fürstenherrschaften im restlichen Kaiserreich . Der Ausdruck Republik hat hier aber nichts mit der Demokratie zu tun ,wie wir sie kennen , denn ein ungleiches Wahlrecht sorgt dafür, dass die wirtschaftlich dominierende Schicht der Kaufleute auch die politischen Geschicke der Stadt bestimmt. Alteingesessene Patrizierfamilien herrschen über die breite Unterschicht . Zu dieser zählten Hafenarbeiter, Seeleute und Dienstboten. Zwischen der Ober-und Unterschicht stehen ,die zur Mittelschicht gehörenden Gewerbetreibenden ,selbstständige Handwerker und das Beamtentum, zu dem auch Professor Rat, die Hauptfigur des Romans zählt. Das Verhältnis der Schichten untereinander ist hierarchisch und statisch. Ein Aufstieg in eine höhere Schicht ist nicht möglich . Dies entspricht der typisch wilhelminischen Gesellschaftsstruktur . Allerdings fühlt sich in Lübeck ,im Gegensatz zum restlichen Kaiserreich das Patriziat ebenso der Elite zugehörig , wieder Adel . Diese Schichtung ist aufgrund der geringen Industrialisierung in Lübeck noch unbeweglicher und traditioneller als im übrigen Kaiserreich. Die in deutlicher Opposition zu dem Regime stehende, organisierte Arbeiterschaft ist in Lübeck nicht besonders stark ausgeprägt. Die Rolle des Kaisers ist im Bewusstsein von autoritätsfixierten Menschen wie Unrat tief verankert . Die Verehrung von Persönlichkeiten wie dem Reichsgründer Bismarck, dem ersten Kaiser Wilhelm I, sowie dessen Enkel, Wilhelm II., wirken bei solchen Menschen sowie bei einem Großteil der Bevölkerung loyalitäts und identitätsstiftend. Diese Strukturierung wirkt sich auch auf die innere Ordnung der Familie aus . Sie ist patriarchalisch gegliedert und Frau und Kinder unterstehen rechtlich und moralisch der unreflektierten Autorität des Vaters. Die Sexualität steht unter dem Einfluss viktorianischer Moral. Alles Geschlechtliche wird ,zumindest nach außen hin tabuisiert und verdrängt. Auch hier wirkt sich das nationale Bewusstsein aus , denn wer gegen diese Moral verstößt gilt als undeutsch. Viele Bürger leben daher eine Art Doppelmoral Für Männer sind Sexuelle Verhältnisse mit Prostituierten oder zu Frauen aus den unteren sozialen Schichten wie zum Beispiel Dienstmädchen akzeptabel , solange sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen.