Deutsche Literatur 44

Nach Brockhaus Multimedial 2001
Thomas Mann, Schriftsteller, *Lübeck 6.6. 1875, ┼Zürich 12.8. 1955, Vater von Erika, Schriftstellerin, *München 9.11. 1905, Golo, Historiker, Publizist, *München 27.3. 1909 und Klaus Mann, Bruder von Heinrich Mann. Sein Vater, der Lübecker Senator und Konsul Thomas Johann Heinrich Mann (*1840, ┼1891), entstammte einer Patrizier- und Kaufmannsfamilie und leitete eine Getreidegroßhandlung. Seine Mutter Julia, geborene da Silva-Bruhns (*1851, ┼1923), war brasilianisch-deutscher Herkunft. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte die Familie nach München, wo Mann 1894 als Volontär in eine Versicherungsgesellschaft eintrat. 1896-98 hielt er sich mit seinem Bruder Heinrich in Italien auf, 1898/99 war er Redakteur der satirischen Zeitschrift »Simplicissimus«, 1905 heiratete er Katia Pringsheim (*1883, ┼1980) und lebte dann bis 1933 in München. 1929 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Von einer Vortragsreise kehrte er 1933 nicht mehr nach Deutschland zurück, lebte zunächst in Südfrankreich, dann in Küsnacht (ZH). In der Folgezeit unternahm er zahlreiche Reisen, u. a. in die USA (Begegnung mit F. D. Roosevelt, 1935). 1936 erwarb er nach seiner offiziellen Ausbürgerung und der Aberkennung der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn durch das nationalsozialistische Regime die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, blieb aber zunächst in der Schweiz, wo er mit K. Falke die Zeitschrift »Maß und Wert« herausgab; 1939 ging Mann als Gastprofessor in die USA (Princeton, New Jersey), von 1942 an lebte er dann (ab 1944 als amerikanischer Staatsbürger) bis 1952 im kalifornischen Pacific Palisades. Nach einem Besuch 1949 in Deutschland (Verleihung der Goethe-Preise der Städte Frankfurt am Main und Weimar) kehrte Mann 1952 auf Dauer nach Europa zurück und lebte zunächst in Erlenbach (Kanton Zürich), seit 1954 in Kilchberg bei Zürich.
Mann zählt zu den bedeutendsten Erzählern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Er knüpft an die Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts an, v. a. an den weit ausholenden Gestus L. Tolstojs. Charakteristisch für das gesamte Werk ist die ironische Haltung des Autors, die sich in seinem Stil vielfältig niederschlägt: hypotaktische Syntax, sinnträchtige Verwendung von Allegorien, Symbolen und Leitmotiven kennzeichnen die Prosa, deren hohe formale Kunst immer dem jeweiligen Thema angeglichen ist. Manns Romane, Erzählungen und Novellen spiegeln die vielschichtigen geistigen, kulturellen und gesellschaftliche Befindlichkeiten des 20. Jahrhunderts in ihrem Wandel, zum Teil in direktem zeitgeschichtlichem Bezug, zum Teil historisch eingekleidet. In seinem ersten Roman »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« (1901, 2 Bände), der ihn sofort weltberühmt machte, beschreibt Mann, zum Teil autobiographisch, die Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie, deren Niedergang v. a. durch neue gesellschaftliche Wirklichkeiten, gewandelte moralische Vorstellungen und die Lebensuntüchtigkeit des künstlerisch veranlagten jüngsten Sprosses herbeigeführt wird. Die Polarität Bürger-Künstler, Leben- Geist wurde, beeinflusst von der Philosophie F. Nietzsches, früh zum beherrschenden Thema, so in der Novellensammlung »Tristan« (1903; darin u. a. auch »Tonio Kröger«) und in »Tod in Venedig«, 1912). Sie spielt auch in dem mit märchenhaften Zügen ausgestatteten Roman »Königliche Hoheit« (1909) eine Rolle. Eine Enzyklopädie des zeitgenössischen geistigen Lebens ist der große Roman »Der Zauberberg« (1924, 2 Bände), der die Tradition des deutschen Bildungsromans fortsetzt. In der abgeschlossenen Welt des schweizerischen Sanatoriums erlebt Hans Castorp, begleitet von den Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenschüler Naphta und dem liberal-humanen Freigeist Settembrini über alle großen Themen und Probleme der Zeit, seinen menschlichen Reifeprozess, der allerdings in die Schützengräben des Weltkriegs führt.
Bereits seit 1926 hatte Mann an seinem umfangreichsten Romanwerk, der Tetralogie »Joseph und seine Brüder« (»Die Geschichte Jaakobs«, 1933; »Der junge Joseph«, 1934; »Joseph in Ägypten«, 1936; »Joseph, der Ernährer«, 1943; erste Gesamtausgabe 1948) gearbeitet. Dieses Werk ist weit mehr als nur der Versuch, einen zentralen Stoff des Alten Testaments in ein großes Prosaepos von einem der rhythmischen Kunstprosa angenäherten, oft breiten und archaisierenden Stil zu kleiden. Mann sah darin vielmehr eine die grundsätzlichen und möglichen Dimensionen des Menschseins absteckende Dichtung, eine Umdeutung des Mythos »ins Psychologische und Humane«. Parallel zum »Joseph« arbeitete Mann an dem äußerlich handlungsarmen Roman »Lotte in Weimar« (1939), in dem ihm ein psychologisch überzeugendes Bild des alternden Goethe und seiner Umgebung gelingt.
Mit dem wichtigsten Alterswerk, dem Künstlerroman »Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde« (1947), nimmt Mann wieder ein zeitbezogenes Thema auf: Er setzt die im Teufelspakt bewältigte Situation der modernen Musik mit dem Schicksal Deutschlands in Beziehung. Den Kommentar zum Roman lieferte der Autor selbst in »Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans« (1949), in engem Zusammenhang mit seinem geistigen Gehalt steht die Rede »Deutschland und die Deutschen« (1945, gedruckt 1947). Zum Spätwerk gehören ferner der Roman »Der Erwählte« (1951, nach dem »Gregorius« von Hartmann von Aue) sowie »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« (Teildruck 1922, erweitert 1937, endgültige Ausgabe 1954), ein Fragment gebliebener moderner Schelmenroman.
In zahlreichen Essays hat Mann zu literarischen, philosophischen und politischen Fragen Stellung genommen. Er sah sich zunächst als national gesinnten Bürger des Kaiserreichs, der sich nicht unmittelbar in das politische Leben mischt (»Betrachtungen eines Unpolitischen«, 1918), im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, zu dem er längere Zeit in einem konfliktbeladenen Verhältnis stand. In der Weimarer Republik änderte sich seine Einstellung. Er engagierte sich gegen den Nationalsozialismus, wobei er von einer bürgerlich-humanistischen Position aus argumentierte (u. a. in dem offenen Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn [1937]). Mit zahlreichen Rundfunkansprachen (ausgestrahlt vom deutschen Programm der BBC 1940/45) suchte er seine Heimat zu erreichen, um die Wahrheit über den Nationalsozialismus zu verbreiten (gesammelt in »Deutsche Hörer«, 1945). Auch nach dem Krieg trat er als Mahner zur Humanität auf (u. a. in den Reden zu den Goethe-Feiern 1949 und den Schiller-Feiern 1955).