Deutsche Literatur 42
"Der Zauberberg" /1924/, der sich in der weltabgeschlossenen Atmosphäre eines Sanatoriums abspielt, unternimmt es nach einem Wort des Autors auf wunderliche, ironische und fast parodistische Weise den alten deutschen „wilhelmmeisterlichen“ Bildungsroman zu erneuern. Diese Bemerkung weißt auf die bewusste Wendung zu Goethe hin und so auch die entschlossene Suche, die Positivität des Lebens und damit eine neue Humanität zu begründen und schließlich gelangen die Parodie, Ironie, und die dazu gehörige Technik der Montage zu bewussten und überlegenen Stillmitteln von Thomas Mann. Er benutzte die traditionellen Erzählformen, doch so, dass er sie zugleich in überlegenen Stil ironisch-parodistisch auflöste. Der Autor hat den Zauberberg als Gegenstück zu den Buddenbrooks, als Wiederholung auf einer höheren Stufe bezeichnet. Der Roman bringt nicht wie üblich ein Geschehen in der Dimension der Zeit, sondern er entfaltet sich als ein vielfältiges hochartifizielles ((hoch)künstliches/gekünsteltes) Gebilde, wesentlich im Raum. Dieser außerhalb von Zeit und banaler Wirklichkeit liegender Ort ist ein hochalpines, schweizerisches Lungensanatorium.
Zwischen dem zu gelegentlichen kurzen Besuch auftauchenden Geschäftsmann Kläterijan, der durch seine massive Gesundheit, optimistisches Dasein und Heiterkeit geprägt ist, und dem empfindsam hyperästhetischen kaum weniger ironisierten Schriftsteller und Dauergast Spinell, der sich der Bewunderung der spärlich schreibenden Schriftsteller nachgibt. Er verstößt, in einer großartig beschriebenen Szene, gegen das strikte ärztliche Verbot und er lässt die Wagners Tristan Musik zu selbstvergessenem Bekenntnis werden. Er spielt sie selber hingerissen und mit höchstem künstlerischem, ästhetischem und platonischem Entzückung. Inhalt: Der 24-jährige Hamburger Patriziersohn Hans Castorp reist vor Antritt seiner Ingenieursausbildung zu Besuch seines lungenkranken Vetters in das Sanatorium Bergfried im schweizerischen Davos. Aus den geplanten drei Wochen Aufenthalt werden sieben Jahre. In der gewissermaßen zeitentrückten, atmosphärisch von Krankheit und Tod geprägten Berg- bzw. Sanatoriumswelt erweist sich der "einfache junge Mensch" als leicht empfänglich für die sinnlichen und geistigen Einflüsse und die von den einzelnen Romanpersonen vertretenen weltanschaulichen Positionen. Hierbei stehen die verführerische Russin Clawdia Chauchat, der "Zivilisationsliterat" Settembrini, der fanatische Jesuitenschüler Naphta sowie die später auftretende "große Persönlichkeit" des Mynheer Peeperkorn sich in wechselnden Konstellationen als aufeinander bezogene Antipoden gegenüber, die gewissermaßen um die Seele des Helden kämpfen. Während der Vetter Joachim nach seiner verfrühten Abreise zurückkehrt und an seiner Krankheit stirbt, findet Hans Castorps Aufenthalt und damit der Roman sein abruptes Ende in dem ausbrechenden Weltkrieg, in dem sich die Spur des Helden verliert.
Der junge, deutsche Hans Castorp gerät in diesen hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen unter seinen eigenen Gesetzen stehenden Raum und wird dort irrtümlich (zufällig) eine lange Zeit, die der Autor auf 7 Jahre beschränkt, festgehalten. Grosse Rolle spielen hier die Zahlen 3 + 4=7.
Dominanten dieses künstlerischen Raumes sind die Krankheit, die ständige Nähe des Todes, Verfall des Willens. Inmitten dieses abgeschlossenen zeitenrückten Raumes mit seiner Fülle wechselnder Gestallten, einem Konzentrat europäischer Geistigkeit vor 1914, bewegt sich Hans Castorp unauffällig, zuhörend, lernend. Dieses aufgeschlossene Suchen ganz ohne die Merkmale der Genialität, diese Lehrjahre der Humanität sind es allein, die an Wilhelm Meister erinnern. Auch hier ist ein autobiographisches Moment wirksam.
Im Zauberberg wie überhaupt in der 2. Hälfte seines Schaffens tritt sein Bemühen um Wiedergewinnung einer neuen ironisch-kritisch gesicherten aber heute noch realisierbaren Humanität in eine veränderte Phase. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Zauberbergs begann T.M. sein nach Stoff und Umfang vor allem nach erzählerischer und sprachlicher Kunst, der Weite des Geschehens und der Ideenfülle bedeutendstes Werk: Die Romantrilogie "Joseph und seine Brüder". Die beiden ersten Bände, die Geschichten "Jakobs" /1933/ und "Der junge Joseph" /1934/ entstanden noch in Deutschland. In der Emigration in den USA folgten "Joseph in Ägypten" /1936/ und die 16-jährige Entstehungszeit abschließend "Joseph der Ernährer" /1943/. Die in diesem Großroman verarbeiteten frühgeschichtlichen und ägyptologischen Mythen und das religionsgeschichtete Wissen sind erstaunlich. Überwältigender ist die unerschöpfliche Freunde und Fülle phantasiereichen Erzählens von Geschichten und Szenen. So verdient der Roman an erster Stelle als Erzähl- und Sprachkunstwerk höchsten Randes, gerühmt zu werden. Der Autor selbst nannte es ein Sprachwerk, eine Menschheitsdichtung, einen epischen Scherz, ein kosmisches Menschheitsmärchen.
T.M. hatte sich in den Nachkriegsjahren von Schoppenhauer und Nietzsche entfernt und immer stärker Goethe zugewandt.
In "Lotte in Weimar" /1939/ entwirft er mit virtuoser Sprach- und Stilkunst die Problematik des alternden Goethe. Der, vom Gespräch beherrschter, Roman ist ein Bericht über den Besuch der Charlotte Kestner (Lotte aus Die Leiden des Jungen Werther) und ihrer Tochter nach 44 Jahren in Wetzlar (1816) bei den in Weimar residierenden Geistesfürsten (Goethe) machte.