Deutsche Literatur 15
Theodor Storm: Schimmelreiter (Novelle)
Stoff- Storm hat die Sage vom gespenstischen Schimmelreiter bereits in seiner frühen Jugend gehört. Die eigentliche Quelle zum „Schimmelreiter“ ist aber die Erzählung „Der gespenstige Reiter“, eine Weichselsage, die zum erstenmal im „Danziger Dampfboot“ abgedruckt wurde und die Storm dann, wie er im „Schimmelreiter“ selbst berichtet, in „Pappes Hamburger Lesefrüchte“ (S.3) gelesen hat.
Die Handlung der ursprünglichen westpreußischen an der Weichsel spielenden Deichsage vom „gespenstigen Reiter“ verlegte er an die ihm besser vertraute Nordseeküste.
Das Thema des Werkes - kann sowohl Kritik am industriellen Fortschritt – Haukes Nachlässigkeit beim Beharren auf notwendigen Maßnahmen bei der Reparatur des alten Deichs – wie auch Verherrlichung eines tapferen Einzelnen, der für den Fortschritt eintrat, verstanden werden. Es wird aber auch die feindliche Stellung der Gesellschaft - die in veralteten Traditionen und Abergläubigkeit lebt und will sie nicht los werden - gegenüber dem Einzelnen kritisiert. Storm hebt Menschenliebe und Humanität hervor. Gerade die Notwendigkeit der Menschenliebe kommt in der Bereitschaft Haukes und Elkes zum gemeinsamen Leiden an ihrem schwachsinnigen Kind zum Ausdruck.
Als die poetische Idee für sein Werk wählte Storm die Novelle. Der Autor bettet die eigentliche Novellenhandlung in eine Rahmenerzählung ein, die eine weitere Rahmenkonstruktion umschließt. Die gestaffelte Rahmentechnik rückt das Geschehen in eine mythische Ferne und zugleich hilft sie die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit sowie die rationalen und phantastischen Elementen zu unterscheiden. Der Konflikt, der eines der typischen Elementen einer Novelle ist, besteht zwischen Hauke und seinen Mitbewohnern. Die Erzählung des Schulmeisters wird mehrfach durch dialogische Reflexionen auf das Problem – mit dem Absicht den Reisenden und damit auch den Leser dazu bringen, Aberglaube von Realität zu trennen - unterbrochen.
Kurze Zusammenfassung
Die Handlung spielt im 18. Jahrhundert, in Friesland an der Nordseeküste. Hier wächst Hauke Haien auf. Er interessiert sich für Mathematik, Technik und deren Anwendung auf den Deichbau. Als Knecht tritt Hauke in den Dienst des Deichgrafen Volkerts. Dank seiner Begabung, Intelligenz und Fähigkeiten, aber auch durch die Hochzeit mit der Tochter des alten Deichgrafen wurde er zu seinem Nachfolger. Trotz des Widerstandes der Dorfbewohner baut er einen neuen Deich, der zugleich neues Land dem Meer abgewinnen soll. So verwirklicht er seinen Lebenstraum. Diese Tat war aber nicht der einzige Grund, warum er nicht beliebt ist. Unvernünftige Menschen beunruhigen auch sein geisteskrankes Kind und sein Schimmel. Das Pferd halten sie für ein Zaubertier, dessen Gerippe vor kurzem noch auf einer Hallig lag. Der neue Deich steht, der alte braucht aber Reparaturen. Nur einmal unterliegt Hauke dem Druck seines Feindes Ole Petersen und lässt den Deich nicht reparieren. Das Unglück lässt auf sich nicht lange warten. Bei einem Bruch des alten Deichs kommt seine Frau und sein Kind in den Fluten ums Leben. Er selbst stürzt sich mit seinem Pferd in die Wellen. Nach seinem Tod erscheint er in der Phantasie des Volkes als gespenstiger Schimmelreiter, immer wenn eine Gefahr droht. Sein Deich dient noch nach hundert Jahren.
Interpretation
Die Ereignisse um den Deichgrafen Hauke Haien sind von drei Erzählern mitgeteilt. Der erste ist ein unbekannter Erzähler, der eine Geschichte „vor reichlich einem halben Jahrhundert“ (S. 3) bei seiner Urgroßmutter in einem Zeitschriftheft gelesen hatte und seit jener Zeit „niemals aus dem Gedächtnis verloren habe“ (S. 3).
Er lässt nun diese Ereignisse von einem Reisenden erzählen. Diesem zweiten Erzähler erscheint während einer stürmischen Nacht ein gespenstiger unheimlicher Reiter.
Als der Reisende in einem Wirtshaus vor dem Unwetter Schutz sucht, lernt er dort einen alten Schulmeister kennen, der als dritter Erzähler die Geschichte von Hauke Haien vorträgt.
Der Schulmeister, der zu „den Aufklärern“ (S. 145) gehört und ein studierter Mensch ist, macht den Reisenden und damit auch den Leser drauf aufmerksam, dass in seiner Erzählung aber „viel Aberglaube dazwischen“ (S. 9) sei und es „ohne diesen zu erzählen“ (S. 9) eine Kunst wäre.
So erscheit Hauke in seiner Erzählung einerseits als vernünftiger Mann, der dank seinen neuen Baumethoden den noch nach Hundertjahren stehenden Hauke-Haien-Deich baut, andererseits aber auch als unheimlicher Teufelsbündner, der von den abergläubischen Mägden und Knechten mit Teufelspuck in Verbindung gebracht wird. Das verursachte hauptsächlich die Gespenstgeschichte von Haukes Simmel, dessen Gerippe der junge Knecht Iven Johns und der Kleinknecht Carstens auf der Hallig Jeversand gesehen haben wollten. Und als Iven um Allerheiligen als Knecht bei Ole Peters, Haukes Feind, eintrat, „fand er andächtige Zuhörer für seine Geschichte von dem Teufelspferd des Deichgrafen, die die dicke Frau Vollina und deren geistesstumpfer Vater, der frühere Deichbevollmächtigte Jeß Harders, hörten in behaglich Gruseln zu und erzählten sie später allen, die gegen den Deichgrafen einen Groll im Herzen oder die an derart Dingen ihr Gefallen hatten.“ (S. 87-88). Das war aber nicht das einzige Aberglauben, das in der Geschichte zum Ausdruck kommt und das auf die Beschränktheit der Dorfbewohner hinweist. Damit der Deich sich haltet, muss ihrer Meinung nach „was Lebendiges hinein“ (S. 107). So rettet Hauke vor gewissem Tod einen Hund, der später mit Möwen zu den einzigen Freunden seiner geistkranken Tochter werden. Haukes Denkweise unterscheidet sich von der seiner Mitbewohner. Er glaubt nicht an Spuk und Aberglaube und wenn seine Tochter die Seeteufel vom alten Deich aus gesehen haben will, erklärt er ihr, dass es sich nur um „arme hungrige Vögel“ (S. 121) handle. Sie sollten sich mit seinen großen breiten Flügel „die Fische, die in die rauchenden Spalten kommen“ (S. 121), holen. In der Geschichte glaubt nicht nur Hauke an keine Gespenster, sondern auch der Schulmeister stellt die wirkliche Existenz des Helden infrage. Er unterbricht seine Erzählung, bevor er von dem Teufelpferd zu beichten anfängt und sagt dem Reisenden: „Sie wollen bemerken, lieber Herr, dass ich das bisher Berichtete während meiner fast vierzigjährigen Wirksamkeit in diesem Kooge aus den Überlieferungen verständiger Leute oder aus Erzählungen der Enkel und Urenkel solcher zusammengefundenen habe; was ich, damit Sie dieses mit dem endlichen Verlauf in Einklang zu bringen vermöge, Ihnen jetzt vorzutragen habe, das war derzeit und ist auch jetzt noch das Geschwätz des ganzen Marschdorfes, sobald nur um Allerheiligen die Spinnräder an zu schnurren fangen.“ (S. 74-75). So werden im Kontrast zwei unterschiedliche Welten dargestellt. Hauke und auch der Schulmeister repräsentieren die rational denkenden Menschen, die die Antwort auf die geheimnisvollen Erscheinungen in der Natur suchen. Sie glauben nicht an Spuk und Aberglaube. Auf der anderen Seite wird hier auch die Welt der tief in Tradition und in Aberglaube verharrten Menschen dargestellt, die an das Phantastische glauben und sich gegen den wissenschaftlichen-technischen Fortschritt stellen. Die beschränkte Denkweise der Dorfbewohner veränderte sich sogar nach vielen Jahren nicht. Das ergibt sich aus dem Kommentar des Schulmeisters, der am Ende der Geschichte kommentiert, dass es noch alle Tage gehe „einen Gewaltsmenschen oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen, oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst zu machen“ (S. 145) Statt des Dankes für sein meisterhaftes Werk blieb Hauke in den Köpfchen der Dorfbewohner nur als ein gespenstiger Teufelreiter, der nach seinem Tod nicht Ruhe finden kann, erhalten. Was für ein Bild sich der Reisende von Hauke Hein nach der Erzählung des Schulmeisters macht, kommt im Werk nicht zum Ausdruck. Aber es sieht so aus, dass es ihm gelang „die Spreu vom Weizen“ (S. 9) zu sondern, indem er sagt, dass ihm der Schulmeister als „ein verständiger Mann“ (S. 145) erscheine. Das kann drauf hinweisen, dass er seine Ansichten und Stellungsnahme zu dem Schimmelreiter mitteilt. Aus dieser komplexen Struktur des Werkes ergibt sich für den Leser die Notwendigkeit, ein eigenes Bild von Hauke Haien und den erzählten Ereignissen zu konstruieren.