Das Böse in Kindermärchen

Das Böse in Kindermärchen

Wenn man die verschiedenen Quellen untersucht, über die Kinder an ihr Wissen über das Bösen gelangen, kommt man um die Märchen nicht herum, denn sie gehören zu den Geschichten, die am häufigsten erzählt oder vorgelesen werden. Dabei dominieren die Erzählungen aus der bedeutendsten Märchensammlung des deutschsprachigen Raums, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Die Brüder Grimm haben darin nicht allein alte Volksmärchen gesammelt und niedergeschrieben, sondern auch alte Sagen, Erzählungen und Legenden in Märchenform umgeschrieben und festgehalten. So finden sich an vielen Stellen, insbesondere im Umgang mit dem Bösen, alte Brauchtümer wieder. In allen Kulturen der Welt versuchten die Mythen eine Antwort darauf zu geben, warum der Mensch ängstlich sei.
Das Böse ist im Märchen weitestgehend zu einer Metapher verblasst, es verbreitet keine Furcht und keinen Schrecken, ebenso wenig wie das Auftreten der Toten, denen nichts Dämonisches umgibt. Das Märchen tut sich vielmehr recht leicht im Umgang mit dem Bösen. Nichts charakterisiert den schwerelosen Schwebezustand des Märchens zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit besser als die Schlussformel. Sie weist nicht nur auf die Zeitlosigkeit des Märchens hin, sondern mehr noch auf den glückseligen Zustand des Märchenhelden, für den es eben keinen Tod gibt.
Oftmals ist das Böse im Märchen Wandel, Verwandlung, Verwunschensein, wobei die Aufhebung einer bösen Verwünschung oder einer Verzauberung Erlösung im Verständnis des Märchens bedeutet. Das Böse ist im Märchen somit eine Wandlungsmetapher, es ist eingekleidet in Bilder und es dient als Gleichnis. Dabei spielen durchaus christliche Ideen eine Rolle.
Aufgrund dieser vielschichtigen Darstellungen der Bösen in den (Volks-) Märchen wird es für Kinder nicht immer leicht sein, eine klare Vorstellung über dessen Wesen zu entwickeln. Es zeigen sich jedoch einige Fragmente aus den Märchenerzählungen in den kindlichen Bösekonzepten wieder, so dass der Rückschluss, dass Märchen einen Erfahrungsfaktor in der Entwicklung einer Vorstellung vom Bösen beim Kind darstellen, durchaus legitim erscheint.

2.5 Ausgewählte Kinderliteratur

In der Kinderliteratur des 18. und 19. Jahrhundert spielte die Thematik des Bösen vor allem in der Form des Todes, eine bedeutende Rolle, da der Tod zu den Alltagserfahrungen der Menschen zählte. Die Darstellung des Todes war von einer Mischung aus autoritärer und zugleich sentimentaler Grundhaltung geprägt. Der Tod wurde so in seiner Angst Wirkung zu einem bequemen Erziehungsmittel, wobei die geforderte Gehorsamshaltung den Eltern gegenüber ihre Entsprechung in einem gleich strukturierten Gottesbild fand (z. B.: Max und Moritz, Der Suppenkaspar, usw.).
Seit den 70er Jahren finden sich jedoch immer mehr Kinder- und Jugendbücher, die die Thematik des Bösen, des Todes, des Sterbens und des Abschieds aus seiner gesellschaftlichen Tabuzone holen wollen. Sie thematisieren die kindlichen Ängste und stellen damit die von Erziehern vielfach aufgebaute heile Welt in Frage, indem sie eine auch für das Kind konfliktvolle, individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit darstellen. Viele Kinderbücher stellen auf höchst unterschiedliche Weise diesen Themenkreis vor. Die Autoren verfolgen durchaus unterschiedliche Zielsetzungen, die das jeweilige Buch für unterschiedliche Situationen einsetzbar machen. Vor allem bieten sie die Möglichkeit für Kinder, Eltern und Erzieher, gemeinsam ins Gespräch zu kommen.

2.6 Märchen und Parallelwelten

Märchen gehören nach wie vor zu den wichtigsten Stoffen, aus denen Kinderbücher schöpfen. Ihre Überzeitlichkeit erzeugt bei Kindern wie bei Erwachsenen gemeinsame Erinnerungen an die Motive der Geschichten und an eine kindgemäße Erzählsituation.
Die Tiere spielen in Märchen eine unhinterfragte Rolle neben den menschlichen Protagonisten. Meist unterstützen sie die Unterdrückten oder sind selbst durch einen bösen Zauber ins Tiergewand verwandelt worden. Die Kinder- und Volksmärchen der Brüder Grimm sind bei uns zum Synonym für die Gattung geworden und gehören neben der Bibel und Shakespeares Werken zu den erfolgreichsten Werken der Weltliteratur. Dabei veröffentlichen die beiden Brüder Jakob und Wilhelm Grimm ihre Märchensammlung in 2 Bänden 1812 und 1815 zunächst als Archiv der deutschen Volksdichtung: Zielgruppe waren die Kollegen der akademischen Literaturwissenschaft. Die kleine Ausgabe wurde von 1825 zu einem Gutenachtgeschichten-Buch für Kinder, die Märchen entsprachen mit ihrem symptomatisch normativen Leitbild den Forderungen an ein Erziehungsbuch.
Viele Kinderbücher, vor allem Tierbücher, bauen eine parallele Welt zur Welt der Menschen auf. Sie gehen von der Annahme aus, dass eine- oder mehrere- Tiergattungen ein eigenes Leben neben oder außerhalb der Menschenwelt führen und leiten daraus die spannenden Abenteuer und rührenden Geschichten ab, mit denen das Buch die Kinder unterhalten möchte.
Die äußerlichen Gemeinsamkeiten zwischen Kind und Nagetier könnte man noch die Nagezähne hinzunehmen, die mit den viel zu großen, neuen Schneidezähnen von Kindern im Vorschulalter korrespondieren. In diesem Alter sind Kinder ebenso schutzbedürftig und wehrlos Erwachsenen und anderen Gefahren ausgeliefert. Sie müssen ihren Platz in der Welt erst finden und sich bei Gefahr auf ein wohlangepasstes Verhalten, kluge Ausreden oder ihre Schnelligkeit verlassen. Die Übergänge von der Kinderwelt in die Parallelwelt der Phantasie sind fließend.
Die Tierkodierung erlaubt es, die beschriebene Verhaltensnorm schärfer als bei einer entsprechenden Darstellung im menschlichen Bereich. Das Kind, das im Tier einen repressionsfreien Verbündeten und im Tierbereich einen Ausweichraum sucht, wird selbst hier eingefangen und in den Normbereich der Erwachsenen zurückgeholt.
Ein Beispiel ist der Wolf Erlbruch, der mit seinen „Fürchterlichen Fünf“ 1990 die bewusste Abkehr vom süßen Kindchenschema und die Thematisierung der Hässlichkeit einführte.