Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. (Teil 3) NJ

Sätze, die im Kampf gegen das
Sterben fallen, sprechen von ihrer Sehnsucht nach Leben. „Ich habe das Wichtigste noch vor mir“, sagt sie, und
in einem nachdenkenden, doppelsinnigen Kommentar deutet die Erzählerin die Unruhe der Freundin: „Jetzt
stirbt man nicht. Es beginnt, was sie so schmerzhaft vermisst hatte: dass wir uns selber sehen; deutlich fühlt sie,
wie die Zeit für sie arbeitet, und muss sich doch sagen: Ich bin zu früh geboren. Denn sie weiß: Nicht mehr
lange wird an dieser Krankheit gestorben werden.“ Sie offenbaren eine neugewonnene Freiheit des Handelns,
die aus der Selbstbefreiung von Illusionen erwachsen ist, aus der durch Erfahrung wohl schmerzlich, aber nicht
tödlich gewonnenen Einsicht darüber, dass die Wirklichkeit noch weit entfernt ist vom Gesellschaftsideal der
reichen Individualität. Die Aufgabe des Ideals bedeutet es nicht, vielmehr gewinnt Christa T. den Mut zum Ich-
Sagen und die Selbstgewissheit, in dieser ersten Person an der Zukunft arbeiten zu können: „Ich habe das Wichtigste
noch vor mir.“ (S. 233)
Nachdenken über Christa T. wurde damals von der Partei und ihren Kulturpolitikern als staatsgefährdendes
Buch abgestempelt (welche Wirkung man doch dem geschriebenen Wort zutraute!), und gegen Christa
Wolf wurde eine gehässige politische Kampagne inszeniert. Wer es besser wusste als die in Fragen der Literatur
nicht eben gebildeten und offenbar schon damals von Feindbildern umstellten staatstragenden Funktionäre,
kam kaum zu Wort, aber auch der Mitteldeutsche Verlag, der gewiss zu Wort kam und mit dem die Autorin in
einem Überarbeitungsprozess sicherlich die womöglich missverständlichen Details erörtert haben dürfte, kuschte
und distanzierte sich von ihr. Ich habe Nachdenken über Christa T. immer geliebt, mit diesem Wir war ich
vertraut, es entsprach meiner Hoffnung. Und es war eine Hoffnung, die mir, die ich erst der Generation nach
Christa T. angehöre, aus diesem Staat erwachsen war. Natürlich ist es ein DDR-kritisches Buch. Aber ist nicht
die kritische Haltung die essentiell hoffnungsvolle? Sie wird von der Hoffnung auf Veränderung belebt, vom
Vertrauen darauf, gehört zu werden.
Und wo wäre die Alternative gewesen? Die bösartigen Kampagnen gegen Christa Wolf im vereinigten
Deutschland haben wohl auch mit der ihren Büchern immanenten Negation einer Alternative in der kapitalistischen
Gesellschaft zu tun. Wie sagt Medea in Christa Wolfs Nachwende-Buch: „Wohin mit mir. Ist eine Welt
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zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“