Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. (Teil 2) NJ
Jan Kopelew hat ein Gespräch mit Christa Wolf aus dem Jahre 1983 zitiert, in dem sie davon sprach,
dass sich ihre Schreibanfänge dadurch verzögert hätten, dass Dogmen der Germanistik und der marxistischen
Philosophie ihr die Unmittelbarkeit des Erlebens genommen hätten. Erst bei der Arbeit an Christa T. seien die
Dämme ganz gebrochen. Das hat sie womöglich gemeinsam mit Christa T., die schon früh Dichterin werden
will und meint, nur schreibend die Auseinandersetzung mit dem Leben bestehen zu können, und deren unzählige
Zettel und Tagebuchaufzeichnungen doch nur Fragmente von Geschichten und Gedanken aufweisen.
Christa T. stirbt, kaum fünfunddreißig, an Leukämie. Die Frage nach ihrem Tod, die Frage nach Lebensmüdigkeit
und Todesbereitschaft begleitet das Nachdenken über sie mit widersprüchlichen Vermutungen.
An der Zugehörigkeit, der inneren Zugehörigkeit der Christa T. zur DDR-Gesellschaft ist kein Zweifel.
Sie ist siebzehn Jahre alt, als der Krieg zu Ende ist, absolviert eine Ausbildung als Neulehrerin, unterrichtet
auch und beginnt dann ein Studium, das sie mit der Erzählerin, einer Schulfreundin von einst, wieder zusammenbringt.
Die neue Zeit erscheint wie die Verwirklichung eines alten Versprechens, „die Idee der Vollkommenheit
hatte uns erfasst, aus unseren Büchern und Broschüren war sie in uns eingedrungen“ (S. 68). Das Paradies
sollte stattfinden, der Mensch zu sich selber kommen.
Das Sinnen der Christa T. ist durchaus auf das Wirkliche gerichtet, auf Veränderungen, die den Sinn der
Sache, und der kann nichts anderes sein als ein mit allen Sinnen sich selbst genießender Mensch, bewahrheiten.
Erlebnisse mit Schülern zu unterschiedlichen Zeiten zeigen ihr nicht nur, dass Gewalttätigkeit keineswegs der
Vergangenheit angehört, sondern irritieren sie auch durch neue Verlogenheit, etwa mit der übereinstimmenden
Bereitschaft aller, für eine gute Zensur zu schreiben, was gewünscht wird - sie nennt es kollektive Lüge-, und
durch ein völliges Unverständnis der Schüler für ihr Bemühen, ihnen ein Gefühl vom hohen Persönlichkeitswert
zu vermitteln.
Christa T. ist nicht anpassungsfähig, sie weiß es, es wird ihr oft genug gesagt. Die Unstimmigkeiten,
Zweifel und Konflikte kehrt sie nach innen, aber sie verzweifelt letztlich nicht. Irgendwann wagt sie zu denken,
dass vielleicht nicht sie es ist, die sich anpassen müsste. Irgendwann, aber da ist der Tod schon nahe, findet sie
ihre Spur, die Spur, die sie selber ziehen kann. Die Erzählerin macht sie ausfindig in der Konzentration ihrer
Antriebe auf den lange gehegten und nicht realisierten Wunsch zu schreiben. Es ist deutlich gesagt auf Seite
hundertfünfzehn und hätte die Interpreten, die in Christa T. eine tragische Figur sahen, eine Werther-Figur, die
an der Gesellschaft zerbricht, eigentlich Zweifel an ihrem Urteil lehren können.