Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. (Teil 1) NJ

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.
(Erzählung, 1965)
„Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“ Christa Wolf hatte ihrem Buch diesen
Satz Bechers vorangestellt. Es ist ein Zitat aus einem sehr nachdenklichen Text Bechers über die Geschichtswürdigkeit
jedes einzelnen, auch des noch so unscheinbaren, Menschen und über die permanente Beunruhigung,
ja Angst und Verzweiflung darüber, nicht mit sich in Übereinstimmung zu sein. Zu sich selber zu kommen
wäre „die Erfüllung aller der Möglichkeiten, wie sie dem Menschen gegeben sind“. Es ist den Tagebuchaufzeichnungen
„Auf andere Art so große Hoffnung“ von 1951 entnommen. Mit dem Anspruch, die Selbstentfremdung
zu überwinden, das volle Menschenleben zu ermöglichen - Traum des klassischen Humanismus und
Traum des Marxismus -, war die DDR-Gesellschaft angetreten. Als eine Unruhestifterin wollte Becher die
Kunst in diesem Selbstwerdungsprozess des Menschen wirken sehen.
Das ist Sinn und Gehalt des Nachdenken über Christa T., denn „Ein für allemal: Sie braucht uns nicht.
Halten wir also fest, es ist unseretwegen, denn es scheint, wir brauchen sie.“ (S.9) Von Anfang an ist es da, dieses
Wir, das aufmerksam macht, da es offenbar nicht nur von der Gemeinschaft der Erzählerin mit dem Leser
ausgeht, auch nicht die Gemeinsamkeit von Erzählerin und Autorin vorstellen will, ein Wir, das ein Kollektivum
von sinnverwandten Weggefährten zu meinen scheint, ein zeitgenössisches vielleicht gar.
Ich weiß, dass ich nach dem ersten Lesen des Buches 1968 auf der Nicht-Identität von Christa T. und
Christa Wolf bestand, schon deshalb, weil alle Welt, die westliche eingeschlossen, das Buch als Eingeständnis
des Scheiterns und der Selbstaufgabe interpretierte. Ich lese nun, dass es eine partielle Identität doch gibt. In
diesem Wir gewinnt die Autorin allmählich Stimme, und in dem Maße, wie die Erzählerin sich der Gestalt der
Freundin zu vergewissern sucht, sich mit Vorkommnissen, mit Sätzen der Christa T., mit Tagebuchaufzeichnungen
und Erinnerungsbildern konfrontiert, treibt das Nachdenken über Christa T. nicht nur deren Wahrheit
aus dem Vergessenwerden, sondern auch die des Wir der Erzählerin und der Autorin. Aus diesem erneuten Lesen
bleiben mir Sätze wie: „Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben.“ (S.
69), oder, wer folgert das, dass Unglück ein angemessener Preis sein kann für die Verweigerung der Zustimmung,
oder, „dass wir alle unseren Anteil an unseren Irrtümern annehmen müssten, weil wir sonst auch an unseren
Wahrheiten keinen Anteil hätten“. (S. 173) Die Distanz zwischen Christa T. und der Erzählerin scheint
allmählich zu schwinden, mehr und mehr scheint ein gebieterischer Gestaltungswille am Werk, der dem schwachen
Profil der Erzählenden nicht entspricht. Wer macht die Entwürfe von Begegnungen und Augenblicken im
Leben der Christ T. und nimmt sie zurück, aber so, dass sie doch bleiben, wiederholt einprägsam Erinnerung
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und Bilder, dass wir sie deutlich sehen, sie, die Angst hatte, spurlos zu verschwinden?