brecht-die unwurdige greisin

Biographie

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren. Er studierte Medizin und Naturwissenschaften. Während seiner Schul- und Universitätszeit entstanden die ersten Gedichte und kleinere Prosawerke. Das Ende des ersten Weltkrieges erlebte Brecht als Sanitätssoldat in einem Lazarett. Die Eindrücke, die er dort sammelte, formten ihn zu einem entscheidenden Kriegsgegner.
1924 wude Brecht von Marx Reinhardt als Dramaturg an das Deutsche Theater verpflichtet..
Nach ersten Theatererfolgen in München („Trommeln in der Nacht“, „Im Dickicht“) ging er nach Berlin. Dort entstanden – in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Weil – die „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“.
In den 30er Jahren, nach der Machtergreifung Hitlers, mußte der überzeugte Marxist fliehen: nach Dänemark, Schweden, Finnland und Schlißlich Kalifornien. In dieser Zeit schrieb er: Furcht und Elend des Dritten Reiches, Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan, Herr Puntila und sein Knecht Matti, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Leben des Galilei, Der kaukasisches Kreidekreis. Er starb am 14. August 1956 in Ostberlin.


2.1 Episches Theater

Brecht erläuterte in seinen zahlreichen Veröffentlichungen seine Theorie über das epische Theater, das entscheidend für die Entwicklung der deutschen Dramatik wurde. Nach dem Krieg gründete Brecht das „Berliner Ensemble“ in Ostberlin, wo er seine Dramaturgie erprobte.
Das Theater soll eine Stätte des Lernens sein und die Erkenntnis vermitteln, daß Natur und Gesellschaft veränderbar sind. Es soll nicht Mitleid und Fruchte erzeugen, sondern lehrhafte Geschehnisse darstellen. Dieses Ziel erreicht das epische Theater durch verschiedene Mittel, durch epische oder erzählende Elemente, durch einegestreute Provokationen, Ansagen, Songs und Erklärungen – der Erzähler führte den Zuschauer in des Drama ein und ergänzt den Dialog, verknüpft die Handlung mit dem historischen und soziologischen Zusammenhang. Diese Spielweise soll das Bekannte, Alltägliche, Hergebrachte „verfremden“. Zu diesem Zwecke dienen die Verfremdungseffekte (V-Effekte): Verwendung von Masken, technischen und musikalischen Effekten. Diese Form erzwingt von dem Zuschauer Entscheidungen aber keine Gefühle, sie argumentiert und nicht suggeriert.
3. Zusammenfassung des Werkes

In der Geschichte „Die unwürdige Greisin“ wird das Leben einer zweiundsiebzigjähriger Frau nach dem Tode ihres Mannes geschildert. Als Frau eines Lithographen hatte sie ohne Magd den Haushalt besorgt, sich um die Kinder gekümmert und für die Arbeitskräfte ihres Mannes gekocht. Nach der Tod ihres Mannes ändert sich ihr Leben. Diese Veränderung blieb den Bewohnern der kleinen Stadt nicht verborgen. Besonders ihr jüngste Sohn – ein Buchdrucker - hält ihr Verhalten für unbegreiflich. Er erwartete, dass sie ihm mit seiner großen Familie in dem Elternhaus, in dem sie allein wohnte, aufnimmt. Doch sie lehte es ab.Statt dessen gestattet sich die Frau die Freiheit, die sie früher nicht hatte. Sie besuchte jetzt Kino, in dem nur Halbwüchsige und Liebespaare zusammenkamen, ging jeden zweiten Tag in ein Gasthaus essen, spielte sie Karten und begann den Rotwein zu lieben. Häufig besuchte sie einen Flickschuster, der in der ganzen Welt herumgekommen war und jedenfalls kein Verkehr für die Großmutter war. Auf ihren Ausflügen nahm sie ein junges halb schwachsinniges Mädchen mit. Diesem "Krüppel", wie die Verwandtschaft das Mädchen nannte, kaufte sie einen großen Hut mit Rosen drauf, während sie ihrem Enkel das Kommunionkleid versagte. Den Pfarrer, der sie besuchen kam, lud sie, wie allgemein behauptet wurde, ins Kino ein. Die alte Frau, deren Lebenswandel von manchem für unwürdig gehalten wurde, fühlte sich keineswegs vereinsamt. Sie sah gesund aus und erfreute sich einer ausgeglichenen Stimmung. Im Sommer stand sie zuweilen morgens früh um drei Uhr auf und spazierte durch die leeren Straßen der Stadt, die sie auf diese Weise für sich allein hatte. An einem Herbstnachmittag starb sie unerwartet, auf einem Stuhl am Fenster sitzend. Das Mädchen – der Krüppel – war bei ihr. Auf einer Photographie, die für die Verwandschaft angefertigt worden war, liegt sie auf dem Totenbett.


3.1 Interpretations des Werkes

Bertlot Brecht möchte auch in dieser Geschichte wie schon bei dem epischen Theater, daß sich der Leser eigene Gedanken über das Verhalten der Großmutter macht. Er bietet ihm keine fertige Lösung, sondern er fordert ihn zu einer eigenen Interpretation auf. Man kann es auch in diesen drei Sätzen feststellen. „Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.“ (S. 93) Wie haben wir diesen Hinweis zu verstehen? In ihrem ersten Leben hatte sie nur für andere dazusein: als Tochter für die Eltern, als Ehefrau für ihren Mann, als Mutter für ihre Kinder. Ständig von Pflicht und Arbeit belastet, lehnte sie sogar die wenigen Gelegenheiten zu einem Familienausflug "mit einer wegwerfenden Handbewegung"(S. 94) ab.
Mit dem Tod ihres Mannes trat die große Wende ein. An die Stelle der von Eintönigkeit rückten jetzt Eigeninitiative, Spontaneität und Phantasie. Ihre Selbstentdeckung kennzeichnet den Begin ihres zweiten Lebens. Dass sie mit dem alten Leben nichts mehr zu tun haben möchte, zeigt zum Beispiel, dass sie nicht mal das Grab ihres Mannes besuchen will. Sie bietet sogar ihrem eigenen Sohn, der auf Durchreise war, keine Unterkunft „wenigstens pro forma“ (S. 93) an. Indem sie jetzt unbekümmert ihr eigenes Leben begann und nicht nur die in sie gesetzten Erwartungen als Witwe erfühlte, stufte ihre Umgebung sie als „unwürdig“ ein. In solcher "Traditionsstörung" liegt der für Bertolt Brecht typische "Verfremdungseffekt".
Dieser besteht darin, dass sich die Greisin nicht den Normen der Gesellschaft anpasst und sich verhält wie alle anderen Witwen. Dadurch verwirrt sie ihre Mitmenschen, die in den alten Traditionen verharren. Der Leser soll selbst über ihr Verhalten so wie über die damalige Gesellschaftsordnung kritisch nachdenken. Der Autor bietet keine eindeutige Bewertung an.
Es kann aber auch nicht übersehen werden, dass in ihrem zweiten Leben nicht alles stimmte. Vor dem Tod ihres Mannes hatte sie sich für alle anderen aufgeopfert um danach ins krasse Gegenteil zu verfallen. Besonders ihr Verhalten gegenüber den eigenen Kindern und Enkelkindern, mit denen sie „keinen regelmäßigen Verkehr pflegte“ (S. 92) und sich allenfalls nach ihnen, „allerdings nicht sehr eingehend“ (S. 93), erkundigte, soll den Leser nachdenklich machen. Er soll aus den beiden extemen Verhaltensweisen einen vernünftigen Mittelweg finden.
Erst wenn man sich selbst gefungen hat und verwirklichen kann, ist es dem Einzelnen auch möglich glücklich zu sein. Dies wiederum ist die Voraussetztung um andere am eigenem Glück teilhaben zu lassen.






3.2 Charakteristik der Hauptgestallten

Um die Greisin charakterisieren zu können, muß man ihr Verhalten vor und nach dem Tod ihres Mannes betrachten. Im ersten Teil ihres Lebens ist sie eine Frau, die nur die Bedürfnisse ihrer Familie befriedigt, dabei ihre Eigenen vernachlässigt. Sie gönnte sich nicht einmal die kleinen Freuden des Lebens. Die Greisin scheidet mit dem Tod ihres Mannes gewissermaßen aus der Familie aus und ihr Verhalten wird als „unwürdig“ bezeichnet, weil sie sich nicht den Normen der bürgerlichen Gesellschaft unterwirft. Statt dessen hat sie keine Angst und ignoriert die Meinung der Umgebung. Sie verkehrt nur noch mit Leuten, die unterhalb ihres früheren Standes leben und sich bei einem Flickschuster treffen: „Sie hatte dort immer eine Flasche ihres eigenen Rotweins stehen, und daraus trank sie ihr Gläschen, während die anderen erzählten und über die würdigen Autoritäten der Stadt loszogen.“.(S. 95). Auf Vorwurfe über ihren neuen Freund – den Flickschuster - reagiert sie spontan, in dem sie sagt: „Er hat etwas gesehen“ (S. 93). Früher war sie ein sehr sparsamer Mensch, nun gibt sie Geld zu ihrem Vergnügung aus, um die letzten Jahre ihres Lebens zu genießen. Das wenig Geld teilt sie mit einem schwachsinnigen Mädchen und den anderen Freunden. Vor dem Tod ihres Mannes war sie angepasst, sparsam, häuslich, selbstlos und aufopfernd, danach wurde sie lebenslustig, rebellisch, freiheitsliebend, unternehmenslustig und freizügig.
Natürlich gefällt ihr Verhalten ihren Kindern nicht. Besonders dem jüngsten Sohn – dem Buchdrucker -, der erwartete, daß sie ihm in das große Elternhaus aufnimmt: „Ich sitze hier in diesen Löchern mit den Meinen und habe nur noch fünf Stunden Arbeit und schlecht bezahlte, dazu macht mir mein Asthma wieder zu schaffen, und das Haus in der Hauptstraße steht leer.“ Ihre neue Lebenseinstellung machte ihn hysterisch, weil die Großmutter ihr Geld nicht für ihn, wie er erwartete, sonder für andere ausgab. Sein Verhalten kann man als selbstsüchtig und egoistisch bezeichnen.
Die einzigen, die sie zu verstehen scheinen, sind das Enkelkind, das diese Geschichte erzählt und sein Vater, ihr besser situierte Sohn. „Mein Vater, der eine gute Portion Humor besaß, fand sie „ganz munter“ und sagte meinem Onkel, er solle die alte Frau machen lassen, was sie wolle.“ (S. 94).





3.3 Thema, Stoff, Poetische Idee

Das Thema dieses Werkes ist die herrschende Gesellschaft und deren Kritik. So selbstverständlich, wie die Greisin während ihrer Ehe alles tat, was von einer guten Ehefrau erwartet wurde, dabei nie die eigenen Bedürfnisse äußerte, so selbstverständlich lehnte sie nach dem Tod des Mannes ab, ihre weitere Lebensordnung den Erwartungen der Familie beziehungsweise der bürgerlichen Gesellschaft anzupassen. Sie gestaltet bewusst ihre Tage ganz unabhängig von Konventionen.

Stoff bezieht der Autor aus der Zeit der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, also einer Zeit, in der die Bürgerlichkeit gesellschaftlich noch kaum in Frage gestellt wurde - der normalen Rollenverteilung im bürgerlichen Haushalt zwischen Mann und Frau entsprechend der zwischen Herr und Knecht. Als unwürdig wird eine Frau bezeichnet, die sich weigert, die Rolle des Knechts bis zu Ende zu spielen. Sie verläßt ihre Klasse, die Familie und gesellt sich zu "geringeren Leuten", zu den Verrufenen, zum "Krüppel" und zum sozialdemokratischen Flickschuster. Das ist Klassenverrat.

Die Poetische Idee ist schwierig zu bestimmen. So wie im Drama finden wir hier einen Konflikt. In der Prosa ist es ein charakteristeisches Merkmal für eine Novelle. Für sie ist auch die Entscheidungssituation typisch. Der Konflikt besteht zwischen der Großmutter und ihrer Umgebung, dabei entschließt sie sich für Selbstfindung und Selbstverwirklichung, in dem sie sich nicht den Normen der Gesellschaft anpasst. Nicht typisch für eine Novelle ist der kurze Komentar ihres Enkelkindes: „Genau bertachtet lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln.“ (S. 95). Das ich charakteristisch für eine Erzählung. Da die Personen sich aber nicht entwickeln weist es doch auf eine Novelle hin.